Wir Muslime reden und schreiben viel zu wenig über wirtschaftliche Themen im Kontext unserer Religion. Es gibt zwar einige BWL-Studenten und Absolventen unter uns, auch den einen oder anderen MBA, aber wenn wir ehrlich zu uns sind; auch diese betrachten in ihrer Mehrheit doch ihr erworbenes Fachwissen als etwas Säkulares, das kaum oder gar nicht mit ihrer Religion zusammenhängt.

Dabei rufen wir Muslime uns doch immer wieder in Erinnerung, dass unser Glaube eben nicht nur aus Spiritualität und Zurückgezogenheit im Kämmerlein besteht, sondern auch eine ausgeprägte gesellschaftliche Dimension hat. Von einigen wenigen Vorträgen zum islamischen Finanzwesen sowie einzelnen Überlieferungen und Quran-Stellen zu Zinsen, Spenden und Gerechtes-Maß-geben einmal abgesehen, stolpern wir zu dem für die Gesellschaft so wichtigen Bereich der Wirtschaft leider nur selten über Inhalte in Predigten, Vorträgen oder anderen Beiträgen.

Warum lassen wir als Mitglieder der islamischen Community zu, dass etwas so viele Dinge in unserem Leben beeinflusst – wir verbringen zeitweise mehr als die Hälfte unseres wachen Lebens mit Arbeiten, Einkaufen und Konsumieren – ohne einen breiten islamischen Zugang zu diesem Thema zu haben?

Eine Antwort darauf liegt womöglich in den verschiedenen westlichen wirtschaftswissenschaftlichen Lehren und Konzepten. Zum einen sind diese erdrückend dominant in der akademischen Forschung sowie auch in wirtschaftlichen Medienbeiträgen weltweit. Zum anderen herrscht bereits innerhalb dieser westlichen Konzepte ein solcher Widerspruch und eine solche Konkurrenz – deutsche Politiker, Akademiker und Ideologen streiten, ob unsere Wirtschaft am besten keynesianistisch, neo-liberal, ordoliberal oder manchmal auch marxistisch gedeihen würde, ob wir sie eher fiskalpolitisch oder geldpolitisch steuern sollten und noch vieles mehr –, dass das Thema auf einige von uns so kompliziert wirkt, dass wir uns gar nicht erst damit auseinandersetzen wollen.

Doch wer sagt eigentlich, dass es keine islamische Wirtschaftswissenschaft gibt? Vom bekanntesten Werk zur islamischen Wirtschaft, Unsere Wirtschaft vom großartigen Ayatullah Muhammad-Baqir As-Sadr haben nur die wenigsten Muslime je gehört, noch weniger haben darin gelesen. Dabei ist es unschätzbar wichtig für die Muslime, sich mit ökonomischen Themen auseinanderzusetzen, denn die Wirtschaft ist ein entscheidender Faktor der Stärke, Unabhängigkeit, der Macht und des Wohlstands, also lauter Aspekte, die wir natürlicherweise für uns selbst, für unsere Gemeinschaft, aber auch für unser Land und letztlich für die ganze, insbesondere die islamische Welt wünschen.

Imam Chamenei betont in vielen seiner Ansprachen, dass das strategische Ziel der Islamischen Republik der Aufbau einer islamischen Zivilisation ist, die ihre positive Strahlkraft auch über ihre Landesgrenzen hinaus projiziert. Wenn er zugleich nunmehr seit Jahrzehnten fast jedes Jahr aufs Neue die strategischen Jahresmottos der Islamischen Republik in den Kontext von eigenständiger ökonomischer Entwicklung, Produktion und wirtschaftlichem Widerstand setzt, dann können wir erahnen, dass dieser großartige Staatsmann in seiner Weitsicht der muslimischen Welt damit ein Mittel in die Hand geben will, aus ihrem nunmehr Jahrhunderte währenden Schlaf zu erwachen.

Die wirtschaftlichen Kapazitäten verleihen, vielleicht noch mehr als die militärischen, eine gewaltige politische Macht. Viele der heutigen Kriege der großen Mächte der Welt finden im wirtschaftlichen Bereich statt: USA gegen China, aber auch USA gegen Europa, Wirtschaftssanktionen gegen dem wirtschaftsstarken Westen missliebige Akteure, wie Weißrussland. Akteure, die sich traditionell auf die Kapazitäten anderer Länder verlassen haben, wie z.B. aktuell der Libanon, bekommen die volle Härte wirtschaftspolitischer Kriege zu spüren und laufen Gefahr zum Spielball der Interessen wirtschaftlich mächtiger, westlicher Staaten zu werden, was natürlich vor allem die Bevölkerung zu spüren bekommt.

Die Gesetze rund um Wirtschaft und Macht sind keine Neuen: Das Vereinigte Königreich beginnend im späten 18. Jahrhundert und erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den USA abgelöst, schöpften ihre weltweit projizierte Macht daraus, dass sie mit großem Abstand führend in der wirtschaftlichen Produktion waren. Auch die Sowjetunion, die nach ihrer Gründung im Zuge der bolschewikischen Revolution mit aller Härte eine auf Unabhängigkeit in der Produktion setzende Wirtschaftspolitik verfolgte, verwandelte sich innerhalb weniger Jahrzehnte von einer schwächelnden Regional- in eine einflussreiche Weltmacht. Aber die Beispiele Sowjetunion und USA lehren uns auch, dass die Wirtschaft kein Selbstzweck ist.

Ökonomische Stärke ist nicht alles und ohne Gottesehrfurcht und Gerechtigkeit scheitert über kurz oder lang auch das stärkste Reich und das ausgeklügeltste System, sei es der materialistische Kapitalismus oder der ebenso materialistische Kommunismus.

Und dennoch: Als Mittel zum Zweck ist eine starke Wirtschaft in der heutigen Welt unabdinglich. Die von Imam Chamenei in etlichen Reden und Vorträgen kommunizierten Ratschläge, Erörterungen und Handlungsanweisungen zu wirtschaftlichen Themen, die nüchtern betrachtet eine Islamische Wirtschaftstheorie widerspiegeln, liefern die Strategien, die einem Staat, sei er islamisch oder auch andersartig geprägt, zu dieser wirtschaftlichen Stärke verhelfen.

Zwei dieser Strategien, die aktuell für die Islamische Republik Iran entscheidend sind und auch problemlos auf die Situation in vielen anderen Ländern, auch Deutschland, übertragbar sind, hat er in seiner Ansprache zum Iranischen Neujahr im März hervorgehoben.[1] Setzt ein Land und seine Bevölkerung beide Strategien so um, dass sie sich ergänzen, dann wird die Wirtschaft eines Landes gedeihen.

Die erste der beiden Strategien ist eine revolutionäre Bewegung, ein Volk, das aus seinem Determinismus heraustritt, also vereinfacht gesagt, dass die Menschen die Einstellung ablegen, dass sie alleine doch ohnehin nichts ändern können. Ein tätiges Volk, das wirtschaftliche Risiken eingeht, Gesellschaften und Partnerschaften gründet, das investiert und das versucht, Dinge zu produzieren, auch wenn ein Import von fertigen Produkten kurzfristig vielleicht einfacher wäre, verfügt über gute Aussichten, wirtschaftlich aufzublühen.

Gerade in einem Land wie Iran, das unter umfassenden finanzpolitischen und wirtschaftlichen Schikanierungen von außen, vor allem aus den USA leidet, begeht ein wirtschaftsrevolutionäres, risikobereites, und investierendes Volk auch einen Akt des Widerstands. Und der Widerstand schließt natürlich auch die Konsumenten mit ein, die niemals ein Produkt aus feindlich gesinnten Staaten kaufen würden, wenn ein vergleichbares oder leicht schlechteres heimisches verfügbar ist.
Ein untüchtiges Volk, das wirtschaftliche Risiken meidet, ist noch nie groß und reich geworden. Das eindrucksvolle Portal des Schütting, dem Gebäude der einst reichen Bremer Kaufmannschaft, drückt dieses Prinzip im traditionellen, hanseatischem Platt aus: „WAGEN UN WINNEN“ (Riskieren und Gewinnen).

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Aber auch die größte Tüchtigkeit und das revolutionärste Volk benötigt Rahmenbedingungen. Die beste Geschäftsidee, die größte Investition in Produktionsmittel und die vertrauensvollsten Geschäftspartner nützen nichts, wenn die wirtschaftspolitische Führung die revolutionären Maßnahmen durch unangemessene Entscheidungen und einer falschen gesetzlichen Grundlage sabotiert. Korruption, hohe Hürden für Unternehmensgründungen und eine zu weite Öffnung der Wirtschaft für Waren aus (vorerst noch) effizienter produzierenden ausländischen Märkten sind Gift für das wirtschaftsrevolutionäre Streben eines Volkes. Verantwortliche Politiker beseitigen unnötige Hindernisse, die den fleißigen Händen der Massen im Wege stehen und schaffen einen rechtlichen Rahmen, der die heimische Produktion, Investition und Gründungstätigkeit fördert.

Die Islamische Republik Iran steht, so geht es zumindest für mich aus der Neujahrsansprache Imam Chameneis hervor, aktuell an der Schwelle dahin, beide Bedingungen zu erfüllen. Die revolutionäre Bewegung gibt es bereits im iranischen Volk, auch in der Wirtschaft. Und das Volk hat die noch amtierende Regierung, die der Revolutionsführer für ihre nicht ausreichende Umsetzung der zweiten notwendigen Strategie teils subtil, teils offen kritisiert hat, schon im Juni zugunsten einer revolutionär orientierten Führungsriege abgewählt; die neue Regierung unter Sayyid Raisi wird im August ihre Tätigkeit beginnen.

Ich wage die Prognose, dass unter den nun gewählten progressiven Kräften im Iran das Land einen gewaltigen wirtschaftlichen Sprung machen wird, der vergleichbar sein wird zu der deutschen Gründerzeit, in der zehntausende risikobereite Unternehmer und Millionen von fleißigen Arbeitern Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert von einer Agrarnation in eine führende Industriemacht verwandelten. Sollte es sogar ein wie von Imam Chamenei beschriebenes enges Zusammenwirken einer revolutionären Regierung mit einem revolutionären Volk geben, dann wird ein Knoten in Iran platzen, der die ganze Islamische Welt beeinflussen und viele ihrer Gebiete an diesem Aufschwung teilhaben lassen wird.

Was aber bedeutet das für uns in Deutschland? Auch wir haben die Möglichkeit, in unserem wirtschaftlich kränkelnden Land beide Strategien zu fördern und zu fordern. Wie? Bei aller Liebe zur guten Bildung und zum Handel: Warum geben sich selbst die Tüchtigsten unter uns Muslimen damit zufrieden Angestellte, Händler oder andere Dienstleister zu sein, aber praktisch nie Produzenten? Sicher, die Einstiegshürden für das produzierende Gewerbe sind höher, man braucht mehr Startkapital, man muss sich mit gleichgesinnten Partnern zusammentun, sich organisieren, denn eine Fabrik ist keine Ein-Mann-Show. Sicher, wir werden nicht gleich eine PKW-Produktionsstraße auf der grünen Wiese bauen können, aber wir könnten dort anfangen, wo wir ohnehin stark sind. Die Lebensmittelindustrie birgt noch gewaltige Potenziale für muslimisch geprägte Produkte. Warum waren es nicht Muslime, die den Trend erkannt haben, möglichst authentisch schmeckendes veganes (und dadurch in der Regel halales) Fleisch herzustellen? Warum nicht als Ersterzeuger direkt landwirtschaftliche Produkte mit Alleinstellungsmerkmal halal?

Als Autor mache ich es mir sehr leicht, ich erhebe den Zeigefinger, ermahne zur Tüchtigkeit und liefere nur einen Rundumschlag, der unterm Strich alles (Wirtschaft ist wichtig und entscheidend in Theorie und Praxis) und auch nichts (wie genau ihr damit umgeht und es umsetzt, müsst ihr selbst wissen) aussagt. Aber zu meiner Verteidigung: Wir stehen noch ziemlich weit am Anfang. Mit Gottes Erlaubnis und Seiner Gnade und unter der spirituellen Leitung unserer Vorbilder – für mich vor allem Imam Chamenei – bezeugen wir schon bald, wie das Leuchtturmprojekt Widerstandswirtschaft seine ersten Früchte trägt. Und vielleicht schaffen wir es ja auch in Deutschland, dieses Ethos zu beleben.


  1. Unterstützung der Produktion und Beseitigung von Hindernissen – Neujahres Rede Imam Chameneis 1400 ↩︎