Als der französische Präsident Macron im Oktober 2020 sagte, der Islam sei in einer Krise, übte er sich in Selbstschutz. Denn in der ganzen Bevölkerung des Westens schlummert ein Geist der Revolution. Und die Muslime gehören zu den Pionieren ihrer Umsetzung.

Fühlt sich die Aussage, dass Muslime Deutschland und den Westen mitrevolutionieren wollen, bedrohlich an? Viele Deutsche, darunter sogar einige Muslime, haben ein weitgehend unauthentisches Bild vom Islam und entsprechend auch von den positiven Impulsen, die unsere Religion diesem Land verleihen kann. Währenddessen nehmen einige allein den Willen eines Muslims, einen religiös motivierten Einfluss auf dieses Land auszuüben, als bedrohlich und gefährlich wahr.

Wegen dieses unauthentischen Bildes schrieb Imam Chamenei 2015, die Menschen im Westen und insbesondere die Jugend adressierend: „In unserer Zeit, in der die Kommunikationsmittel die geografischen Grenzen überwunden haben, solltet Ihr nicht zulassen, dass man Euch in künstliche geistige Grenzen einsperrt.“ Er warnt insbesondere vor dem Bild, das vom Islam vorgelegt werde, und appelliert an die Menschen: „Ich bestehe nicht darauf, dass Ihr meine oder irgendeine andere Deutung des Islams akzeptiert. Ich sage nur, lasst nicht zu, dass euch, ausgehend von böswilligen und schmutzigen Motiven, diese lebendige und die heutige Welt beeinflussende Wahrheit (falsch) präsentiert wird.“[1]

Ja, wir Muslime sind davon überzeugt, dass die Wahrheit, die uns ein allmächtiger und allwissender Schöpfer als Rechtleitung gegeben hat, auch unserem Land nützen wird, wenn wir uns an ihr orientieren. Wir wissen wohl, dass obwohl wir Bürger dieses Landes sind, unser Anspruch auf politische Mitgestaltung auf einige wie etwas Fremdes, Undeutsches wirken mag. Dies darf aber kein Hindernis sein. Nehmen wir an, wir seien Fremde: Hat es diesem Land jemals an Offenheit gemangelt, sich Ideen von außen zu holen? Tatsächlich hat es das nicht. Wir Deutsche holen uns bis in die heutige Zeit politische Ideen und Ideologien von Akteuren, die nicht nur vermeintlich, sondern wirklich moralisch zweifelhaft sind, wie etwa den USA (z. B. den Neoliberalismus der 2000er Jahre) oder von China (die Technologisierung jeder Privatsphäre). Die Beispiele zeigen, dass wir nicht nur von guten Ideen und Ideologien sprechen.

Welche Revolution wollen wir?

Wir Muslime wollen also die Revolution. Was ist damit gemeint? Die Menschen in Westeuropa und Nordamerika verbinden mit Revolution häufig irgendetwas aus der Vergangenheit, vielleicht eine Szene in Schwarzweiß oder gar ein Gemälde aus dem 19. Jahrhundert oder noch früher. Es gab in den letzten Jahrzehnten zwar immer wieder Reformen oder politische Umbrüche im Westen, aber diese waren in der Regel von außen herbeigeführte (Ende des Faschismus), oder von oben verhandelte Wechsel (Ende der DDR). Man könnte meinen, die Zeit der Revolutionen sei in unseren Breitengraden Vergangenheit. Dies ist eine sehr pessimistische Annahme, weil wir müssen eher davon ausgehen, dass im Angesicht gewaltiger sozialer, wirtschaftlicher und politischer Missstände im Land ein revolutionärer Geist herrscht – und ich denke, das ist auch der Fall.

Aber spinnen wir diese pessimistische Annahme weiter: Die einzigen politischen Kräfte, die in den letzten Jahren Aufwind erhalten und Leute auf die Straße gebracht haben, waren rechte, gegen Muslime gerichtete Massen, deren Vorstellung von Revolution nicht die einer konstruktiven Zukunft, sondern die einer verklärten Vergangenheit ist. Von ihnen erhoffen wir uns keine Veränderung zum Guten.

Hat die Jugend die Antwort?

Doch die jungen Menschen in Deutschland und Europa verfügen über ein gewaltiges Potenzial, zunächst ihren Erdteil in eine bessere Welt zu verwandeln und dann noch andere Teile der Welt mitzuziehen und aus dem Elend herauszuholen. Und die Jugend ging auch tatsächlich auf die Straßen. Nur bündelten die Schüler und jungen Leute, die zum Demonstrieren in die Innenstädte strömten, ihr ganzes revolutionäres Potenzial auf ein einziges Thema, den Klimaschutz. So ehrenwert der Kampf gegen die Unterdrückung der Umwelt auch sein mag, es ist nicht das Kernproblem unserer Zeit und unserer Region. Der herrschende Schlüsselkonflikt ist die politische, wirtschaftliche und geistige Unterdrückung der Mehrheit der Menschen durch einige wenige, aber mächtige Akteure. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern bittere Realität, die sich auch in wirtschaftlicher Macht widerspiegelt: Wenn die 26 reichsten Menschen mehr besitzen als die ärmere Hälfte der Menschheit[2] und zugleich täglich mehrere tausend Kinder den Hungertot erleiden, dann ist Umweltschutz zweitrangig, weil dann stimmt etwas mit dem Gesamtsystem nicht und nicht nur mit einem Teil davon.

Leider betreiben sie aktuell nur Symptombekämpfung, wo doch die eigentlichen Ursachen der Umweltzerstörung direkt mit der menschlichen Ungerechtigkeit in der Welt zusammenhängen und nur mit ihr zusammen beseitigt werden können. Davon zeugen etliche konkrete Beispiele, so etwa auf der Ebene der Luftverschmutzung: Die internationale Entwicklungsorganisation Oxfam verglich den CO₂-Ausstoß nach Vermögensverteilung und stellte fest, dass das reichste Prozent der Menschen alleine doppelt so viele Kohlendioxidemissionen verursacht[3] wie die Hälfte der Menschheit. Dieses eine Prozent und das auf ihre Bedürfnisse abgestimmte System[4] trägt den größten Teil zur Erderwärmung bei; deren Bereicherung ist das Problem und nicht der deutsche Arbeiter, der mit dem Auto zur Arbeit fährt.

Auch wenn wir von der Ebene der Individuen auf die Ebene von Staaten wechseln, sieht es ähnlich aus: Der größte institutionelle Umweltverpester, nämlich das US-Militär, schleudert alleine mit seinen globalen logistischen Lieferketten mehr Emissionen in die Atmosphäre als die Gesamtbevölkerung der meisten Länder der Erde.[5] Eine logistische Lieferkette, die mit dem Kampf gegen die ungerechte Politik dieser weltweiten Hegemonie beseitigt werden würde – und mit ihr die umweltlichen Schäden.

Kritik am US-Imperialismus jenseits von klimapolitischen Diskussionen sucht man dennoch vergebens bei den Vorzeigeakteuren der Klimabewegung. Der Grund dafür ist, dass der ideologische Rahmen, in dem sich die Klimaaktivisten bewegen, per se eindimensional ist. Unsere Gesellschaft ist aber in einer umfassenden Krise, entsprechend muss die Bewegung zu einer besseren Welt auf ebenso umfassende Konzepte aufbauen.

Das Handeln der Muslime

Als Muslime sind wir überzeugt – und damit kommen wir zum eigentlichen Thema zurück –, dass der Islam eben solche Konzepte bietet, wie sie unser Land und unser Kontinent benötigt, um aus der Krise zu kommen und dabei anderen Ländern wieder ein Vorbild sein zu können. Wir dürfen dabei in unserem Handeln nicht aus Angst davor, dass wir als Radikale oder als Aktivisten eines politischen Islams gebrandmarkt werden, zurückschrecken. Natürlich haben wir als integraler Bestandteil des deutschen und europäischen Volkes das Recht, im Rahmen der Gesetze an der Verbesserung der Gesellschaft mitzuarbeiten. Die Behauptung, wir dürften dies nicht oder das sei gefährlich, kommt von Akteuren, die unsere Verfassung an sich für gefährlich halten.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Selbstverständlich möchten wir zum einen eine Revolution der Herzen entfachen, diese müssen ja erst für Gerechtigkeit und Nächstenliebe (wieder) geöffnet werden. Und wir wollen auch eine Revolution des brüderlichen Umgangs unter den Menschen hier im Land. Aber wir fordern, und das sei hier betont, auch eine Revolution des aktuell herrschenden gesellschaftlichen und politischen Lebens. Unser Ziel ist, dass Alt und Jung, Biodeutscher (was ist das überhaupt?) und Deutscher mit Migrationshintergrund (wer hat den eigentlich nicht?) sowie Atheist und Anhänger anderer Religionen, insbesondere Muslime und Christen, für eine bessere Gesellschaft konstruktiv zusammenarbeiten und sich nicht mehr gegeneinander ausspielen lassen, so dass sich einige wenige an ihrer Macht und an zügellosen Gewinnen erfreuen. Wir können keine Muslime sein, „die zum Guten aufrufen, das Rechte gebieten und das Verwerfliche verbieten“ (Hl. Quran, 3:104), wenn wir uns zurücklehnen und darauf hoffen und warten, dass sich ein solcher Wandel von alleine ereignet, vielmehr müssen wir uns dafür anstrengen und einsetzen.

Die Grundlage für einen solchen, von uns Muslimen mitgestalteten Wandel bietet die deutsche Gesellschaft und auch der rechtliche Rahmen, in dem sie sich bewegt, ohnehin. Sie steht nicht im Widerspruch zu den islamischen Prinzipien, die wir als gut für unser Land betrachten. Deutschland verfügt über etliche Anknüpfungspunkte, seien sie politischer, wirtschaftlicher, philosophischer oder anderer Art, zu islamisch-revolutionären Prinzipien, so dass unsere deutsche Heimat in ebenso etlicher Hinsicht profitieren kann. Wir Muslime sind gefragt, diese aufzugreifen und sie konstruktiv, aber auch entschlossen mit Leben zu füllen.

Einer der Anknüpfungspunkte hängt beispielsweise mit der Bildung und der Wirtschaft im Land zusammen. Die deutsche Gesellschaft bringt durch eine weit gefächerte Bildungslandschaft eine überdurchschnittlich hoch ausgebildete Bevölkerung hervor. Unter den vielen Akademikern gibt es vergleichsweise viele Wirtschaftswissenschaftler. Diese sind, selbst unter der Annahme, dass die Menschen hierzulande immer atheistischer würden (was keineswegs ein unumkehrbarer Trend ist), häufig mit der hierzulande kapitalistisch geprägten Wirtschaftslehre unzufrieden und offen für revolutionäres Gedankengut. Ich behaupte, dass die Menschen in Deutschland einen starken Hang zur Gerechtigkeit und zugleich einen Sinn für vernünftiges Wirtschaften haben. Mit diesen gerechtigkeitsliebenden Menschen kann Deutschland zum Pionier bei der Entwicklung einer Alternative zur gescheiterten Wucher-Zinswirtschaft (manchmal auch Turbo-Kapitalismus genannt) werden.

Die Mehrheit der Weltbevölkerung hat sich noch nicht aus den Fängen des Kapitalismus im eigenen Land befreien können, nicht etwa mangels alternativer theoretischer Konzepte – für diese haben große islamische Gelehrte, wie Schahid Sadr oder auch Imam Chamenei selbst die Grundsteine gelegt –, sondern einfach, weil bisher kaum ein großer Staat den Mut aufgebracht hat, diesen radikalen Weg, der ja notwendigerweise ein anti-amerikanischer werden würde, zu gehen. Wir als Muslime wissen längst, und auch die meisten Nichtmuslime ahnen es, dass die Zukunft Deutschlands nur eine gute werden wird, wenn wir einen wichtigen Schritt der politischen Revolution begehen, nämlich uns aus der unterdrückerischen Einklammerung der USA zu befreien.

Diese bieten uns in den letzten Monaten und Wochen so viele Anlässe, von ihnen Abstand zu nehmen, dass man meinen könnte, sie drängen uns regelrecht dazu. Während die Mehrheit der deutschen Politiker vor einigen Jahren noch vom Trugbild einer befreundeten Supermacht getäuscht wurde, hat heute das offenkundig feindlich gesinnte und im Niedergang begriffene Imperium seine Maske fallen gelassen. Wir hatten bis vor Kurzem einen US-Botschafter, der sich damit rühmte, unserem Bundestag, also unser aller Volksvertretung, Washingtons Politik aufgezwungen zu haben. Einen ebensolchen Druck üben die Amerikaner aktuell, entgegen deutscher Interessen, zum Stopp der Ostseepipeline Nord Stream 2 aus. Auch der Amtswechsel im Weißen Haus ändert, wenn überhaupt, nur deshalb etwas daran, weil die neue Regierung feststellt, dass sie diese eine Schlacht im Wirtschaftskrieg verloren hat. Der Krieg geht aber weiter, auch wenn der neue US-Präsident die strukturelle Feindschaft der USA gegenüber Deutschland hinter einem freundschaftlichen Lächeln versteckt.

Erinnern wir uns auch daran, dass US-Gerichte deutsche PKW-Hersteller für begangene Fehler in Raubritter-Manier zu Milliardenstrafen verklagt haben, während Fehler von US-Unternehmen wohlwollend übersehen wurden. Die Liste der US-Aggressionen gegen unser Land ist lange und längst nicht ausgeschöpft, aber es geht hier vor allem darum, einen wichtigen Teil der Revolution aufzuzeigen, die wir Muslime uns für Deutschland vorstellen, nämlich der Befreiung von äußerlicher Unterdrückung. Dass unser Heimatland ausländische Aggressionen nicht duckmäuserisch hinnimmt, ist auch kein Wunsch, auf den wir Muslime ein Patent hätten. Auch ein Atheist oder ein Christ empfindet zweifelsohne eine Verletzung der Würde unseres Landes als etwas moralisch Schlechtes, sei es auch nur aus einem diffusen, inneren Gefühl heraus. Die Revolution, die wir dementsprechend benötigen, muss Europa notwendigerweise aus der Hegemonie Washingtons herausbefördern – oder auch auf der anderen Seite des Atlantiks zu einem Regimewechsel führen, so dass doch eine echte Partnerschaft entstehen kann.

Die USA sind es, die uns und unserem Fortschritt im Wege stehen und wir können unseren revolutionären Weg erst dann gehen, wenn wir unabhängig und frei von ihrem negativen Einfluss sind. Aber unser Land braucht nicht nur solche epochalen wirtschafts- und außenpolitischen Umbrüche wie oben beschrieben. In vielen weiteren Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, wie Bildung, Wirtschaft, Umwelt, Medien und Recht, herrscht ein ebenso ausgeprägter Verbesserungsbedarf hin zu mehr Gerechtigkeit. Denn die menschliche Natur strebt nach dieser und auch die deutsche Volksseele neigt in diese Richtung. Das gilt insbesondere für unsere Jugend. Vergessen wir nicht, dass die Generation, die heute in den Universitäten und in ihren Gesellenjahren ist, dieselbe Generation ist, die Imam Chamenei in seinem Brief anschrieb:

„Ich wende mich an Euch junge Menschen, nicht um Eure Eltern außer Acht zu lassen, sondern deshalb, weil ich die Zukunft Eures Volkes und Eurer Heimat in Euren Händen liegen und in Euren Herzen ein vitaleres und sensibleres Verlangen nach der Wahrheit sehe.“

Jeder, der einen revolutionären Drang zu mehr Gerechtigkeit in sich spürt, gehört zu diesen Wahrheitsliebenden, unabhängig von seinem Alter. Wir hoffen und beten, dass auch wir zu ihnen gehören dürfen. Dann liegt die Zukunft für unser Volk und unsere Heimat in unseren Händen.


  1. https://archiv.offenkundiges.de/wp-content/uploads/2015/01/brief0mm.pdf ↩︎

  2. https://www.theguardian.com/business/2019/jan/21/world-26-richest-people-own-as-much-as-poorest-50-per-cent-oxfam-report ↩︎

  3. https://www.oxfam.de/ueber-uns/aktuelles/klimawandel-ungleichheit-reichste-1-prozent-schaedigt-klima-doppelt-so-stark ↩︎

  4. https://www.youtube.com/watch?v=AT7MPSuRmAU ↩︎

  5. https://rgs-ibg.onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/tran.12319 ↩︎