Für viele Leser mögen diese einleitenden Sätze radikal erscheinen, weil sie sowohl über die Ursachen des Palästina-Konflikts als auch über die Verhältnisse im Apartheidsstaat und die Politik der ethnischen Säuberungen dort von den Mainstream-Medien nicht informiert werden. In meinem letzten Artikel habe ich verdeutlicht, wie die deutschen Medien und Politiker im jüngsten Gaza-Krieg die Fakten verdrehten und den Auslöser der Eskalation – die fortgesetzten ethnischen Säuberungen – schlicht nicht zur Kenntnis nahmen. [1]
Die Abraham-Abkommen
Werfen wir zunächst einen Blick zurück. Am 15. September 2020 unterzeichneten der Außenminister der Vereinigten Arabischen Emirate und der israelische Ministerpräsident Netanjahu 2020 vor dem Weißen Haus in Washington im Beisein von US-Präsident Trump den „Vertrag des Friedens, der diplomatischen Beziehungen und der vollständigen Normalisierung zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten und dem Staat Israel“, der auch Abraham-Abkommen genannt wird. Zur gleichen Zeit wurde ein ähnlicher Vertrag zwischen Bahrain und Israel unterzeichnet. Bald folgten mit dem Sudan und Marokko zwei weitere Staaten, die ähnliche Abkommen mit Israel abschlossen. Damit haben – nach Ägypten (1979) und Jordanien (1994) – nunmehr sechs arabische Staaten Israel anerkannt. Die Motive dabei waren höchst unterschiedlich. Während der Sudan unter Druck stand und US-Sanktionen entgehen wollte, ging es Marokko hauptsächlich darum, die Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko von den USA absegnen zu lassen. Bei allen Beteiligten spielten auch erwartete ökonomische Vorteile eine Rolle.
Im November letzten Jahres kam es weiterhin zu einem inoffiziellen Treffen zwischen dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman und dem israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu, nach dem spekuliert worden war, dass ein Abkommen Saudi-Arabiens mit Israel nur eine Frage der Zeit ist, arbeiten doch beide Staaten in „Sicherheitsfragen“ bereits eng zusammen. Dagegen scheint der amtierende saudische König jedoch eine Lösung des „Palästinaproblems“ vor dem Abschluss eines Abkommens vorauszusetzen.
Die Krux an den Abkommen
Es hätte den arabischen Führern, die diese Abkommen mit Israel abschlossen, bei einer Analyse eigentlich klar sein müssen, dass sie durch diese Abkommen früher oder später große Probleme bekommen würden und dass Israel der eigentliche Profiteur sein würde. In der Realität war ihre Kollaboration mit den USA und Israel jedoch bereits so weit vorangeschritten, dass sie sich nicht scheuten und schämten, dies auch noch offiziell zu bekunden. Sie witterten auch kurzfristige ökonomische Vorteile und waren bereit, ihre Brüder und Schwestern für ein paar Silberlinge zu verkaufen.
Zunächst einmal lag es auf der Hand, dass eine solche Übereinkunft mit einem Staat, der weiterhin eine Apartheidpolitik und ethnische Säuberungen in Palästina praktiziert, einem Verrat an den palästinensischen Brüdern und Schwestern gleichkommt. Die Fatah beschuldigte die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) denn auch, „ihre nationalen, religiösen und humanitären Pflichten“[2] gegenüber dem palästinensischen Volk zu verletzten, die Hamas bezeichnete das Abkommen als „verräterischen Dolchstoß in den Rücken des palästinensischen Volkes“. Selbst die südafrikanische Regierung machte darauf aufmerksam, dass diese Abkommen über „das Schicksal des palästinensischen Volkes“ entscheiden würde, „ohne dieses gefragt zu haben“.[3]
Statt Druck auf Israel zu entfalten, seine Politik zu ändern, ließen diese Abkommen doch eindeutig den gegenteiligen Effekt erwarten, nämlich dass der Druck auf Israel weiter nachlässt, der zionistische Staat dadurch gestärkt wird und seine Politik der ethnischen Säuberung mit solchen Freibriefen in der Hand noch intensivieren kann. In diesem Sinn äußerte auch Mohamed Amari Zayed, Mitglied des libyschen Präsidentenrates, gegenüber Al-Jazeera seine Erwartung, dass „die Verluste der islamischen Gemeinschaft durch die Politik der VAE viel höher“ seien als die entstandenen Verluste infolge der Politik Israels.“ [4]
Unabhängig vom Problem, dass diese Abkommen überhaupt zustande kamen und einen Verrat an den Palästinensern darstellten, lag die eigentliche Krux in diesen Abkommen darin, dass die Palästinenserfrage bewusst ausgeklammert wurde, d. h. man verpflichtete Israel in diesen „Friedensverträgen“ weder zum Stopp des Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten noch zu sonst irgendeiner Gegenleistung für die Normalisierung der Beziehungen. Das kann nicht nur als ein Freibrief ohne jede Gegenleistung Israels für die Normalisierung der Beziehungen, sondern logischerweise sogar als Ermunterung für den zionistischen Staat angesehen werden, seine Politik der ethnischen Säuberungen zu forcieren. Denn die israelischen Führer konnten ja erwarten, dass sich die Unterzeichnerstaaten zukünftig mit jeder Kritik am israelischen Vorgehen – ganz gleich um welche Ungeheuerlichkeiten es sich handelte – zurückhalten mussten. Die aktuellen Ereignisse bestätigen diese Einschätzung voll und ganz.
Die Eskalation der Gewalt in Palästina im Mai 2021
Als im Mai 2021 wieder einmal Bomben auf Gaza fielen, gerieten die Unterzeichnerstaaten – was sie eigentlich hätten vorhersehen können – sofort in ein Dilemma. Sie waren nun mit dem Problem konfrontiert, ob sie den neuen Partner Israel überhaupt und – wenn ja – wie scharf kritisieren konnten. Aufgrund der sich schnell abzeichnenden Unterstützung in der Bevölkerung für die Sache der Palästinenser in allen arabischen Ländern, die insbesondere in sozialen Netzwerken ihren Ausdruck fand, mussten zumindest Lippenbekenntnisse abgegeben werden. In Marokko z. B. konnte ich beobachten, wie in vielen Nachrichtensendungen anfangs überhaupt nicht und später nur unter ferner liefen über die Eskalation in Gaza berichtet wurde. Man tat sich erkennbar schwer – die angeblich ernst gemeinte jahrelange Unterstützung für die Palästinenser entpuppte sich als das, was sie eigentlich schon immer war, nämlich bloße Lippenbekenntnisse.
Colin Clarke von „The Soufan Group (TSG)“, ein globales Informations- und Sicherheitsberatungsunternehmen, analysierte in diesen Tagen treffend, dass die Unterzeichnerstaaten nun „ziemlich schwach“ dastünden, und er fuhr wie folgt fort: „Sie haben den Abkommen zugestimmt, haben aber buchstäblich null Einfluss auf die Israelis. Gleichzeitig ist ihre Kritik an Israel wegen der Abkommen wenig glaubhaft.“[5] Zu den medial groß verkündeten Abkommen meinte Clarke übrigens gegenüber der DPA, dass sie „im Wesentlichen PR“ gewesen seien.[6]
Die Unterzeichnerstaaten verteidigten die Abkommen mit Israel gegenüber Kritikern v. a. mit dem Argument, dass sie dadurch mehr Einfluss auf die Politik Israels gewinnen würden. Die Ereignisse der letzten Tage verdeutlichten, dass das genaue Gegenteil der Fall ist. Sie haben im Hinblick auf die Palästinafrage jede Glaubwürdigkeit verspielt. Die Menschen – nicht nur in Gaza – wissen, was sie von jenen Lippenbekenntnissen zu halten haben, und die Verantwortlichen müssen sich nun vorwerfen lassen, zu diesem ungeheuren Leid ihrer palästinensischen Brüder und Schwestern beigetragen zu haben und wohl auch in Zukunft beizutragen.
Vgl.: „Palästina: Wie deutsche Medien und Politiker die Tatsachen verdrehen“ ↩︎
Israel, UAE announce normalisation of relations with US help. In: AlJazeera.com, 13. August 2020 ↩︎
Hassan Isilow: South Africa concerned about Israel-UAE deal. Anadolu Agency, aa.com.tr, 15. August 2020, abgerufen am 15. April 2021. ↩︎
Mohamed Amari Zayed, a member of the Libyan Presidential Council, „Speaking to Al-Jazeera TV“, Anadolu Agency, aa.com.tr, 14. August 2020, abgerufen am 14. Mai 2021. ↩︎
Clarke, Colin, zitiert nach Merur.de, zuletzt abgerufen am 28.5.2021 ↩︎
Ebenda. ↩︎