Gelegentlich werden wir Schiiten von anderen Muslimen oder von Nichtmuslimen gefragt, was denn genau Aschura sei. Der eine oder andere Fragensteller hat schon davon gehört und möchte nun von uns selbst wissen, was denn die heiligen Tage im Muharram für uns bedeuten. Es gibt so viele Antworten auf diese Frage und am Ende ist es eigentlich doch nur eine.
Wir Muslime glauben, dass die ganze Menschheitsgeschichte hindurch, schlechte Menschen Unheil und Unterdrückung, kurz Falschheit, auf der Erde gestiftet haben. Und es gab in allen Zeiten Leute der Wahrheit, die das Unheil und die Unterdrückung nicht akzeptiert haben, die überzeugt waren, dass es die Aufgabe des Menschen auf dieser Welt ist, diese Falschheit zu beseitigen. Muslime glauben ebenfalls fest daran, dass es der Islam ist, der eines Tages die gesamte Menschheit von der Falschheit befreien und der Menschheit das Paradies auf Erden schenken wird.
In den Ereignissen von Aschura am 10. Muharram 61 (680 n. Chr.), drückt sich wie niemals zuvor und auch niemals danach in der gesamten Menschheitsgeschichte die Wahrheit in all ihrer Aufopferung und Liebe aus. Auf der einen Seite lebten die wahrhaftigsten Menschen ihrer Zeit die Wahrheit in ihrer reinsten Form so deutlich und so umfassend für alle Menschen vor, wie auf der anderen Seite auch die Unterdrücker in ihrem Egoismus und ihrer Schlechtigkeit ihre Falschheit offenlegten.
Was bedeutet das für uns? Das ganze Ereignis von Karbala mit seiner langen Vorgeschichte und seiner Nachgeschichte ist für uns erst einmal wie eine Schule, mit der wir lernen, wie wir in bestimmten Situationen zu handeln haben. Jedoch ist das nicht das Wichtigste. Noch weitaus wichtiger ist, dass die Faszination und die Trauer über die an diesem Tag gelebte Liebe, Hingebung und Opferbereitschaft dazu führt, dass den Menschen das Herz an die richtige Stelle gerückt wird.
Bekanntlich versinken wir Schiiten im Monat Muharram dermaßen in Trauer, dass wir „weich werden“ und unsere Tränen massenhaft fließen. Wir weinen dabei nicht, weil diese oder jene Schlacht besonders brutal war oder ein Mord besonders grausam. Das ist zwar an sich auch traurig, wäre aber nicht logisch; grausame Morde gab es doch schon immer, auch nach Aschura. Vielmehr sind wir zu Tränen gerührt, fasziniert und traurig zugleich, über die, im wahrsten Sinne des Wortes, unvergleichliche Opferbereitschaft und Liebe, die Imam Hussein (a.), der in seiner Zeit der wahrhaftigste aller Menschen war, an diesem Tag geben musste. Er tat, was er tun musste, damit nicht die Wahrheit selbst den Unterdrückern zum Opfer fiel. Imam Hussein (a.), die Verkörperung der Liebe zur Wahrheit, gab alles – wirklich alles, was ein Mensch geben kann –, damit das bisschen Liebe, das noch in den Menschen war, ob Freunde oder Feinde, selbst überlebt.
Sein Opfer war erst notwendig geworden, weil die Menschen ihrer Zeit dermaßen durch Falschheit und Lüge ihre Herzen verdunkelt hatten – obwohl nur fünfzig Jahre zuvor der Gesandte Gottes Muhammad (s.) die reine Wahrheit der Liebe den Menschen gebracht hatte –, dass sie den heiligsten Menschen ihrer Zeit als obersten Terroristen wahrnahmen und nur noch durch ein gewaltiges, nie zuvor dagewesenes, erhabenes Opfer wachgerüttelt werden konnten.
Und dieses Opfer brachte Imam Hussein mit seinen Anhängern. Aus deren Handlungen und Taten sprudelten in den wenigen Stunden des zehnten Muharram dabei so viele gewaltige Details der Liebe hervor, dass sie die Menschen ihrer Zeit schockierten, berührten, wachrüttelten und ihnen halfen, dass ihr Herz weg von den Leuten und Dingen der Schlechtigkeit und hin zu denen der Wahrheit gezogen wurde. Die vor allem durch die Enkeltochter Muhammads (s.) und Zeugin der Ereignisse Sayyida Zainab (a.) übermittelten Überlieferungen und Erinnerungen gaben den Menschen ihrer Zeit ergreifende Zeichen der reinen, geopferten Wahrheit, und zwar auf eine Art und Weise, die die Menschen berührte, die dazu führte, dass die Menschen sich mit den Märtyrern der Liebe und Wahrheit identifizierten und sie damit zu besseren Geschöpfen machte. Die in Karbala gebrachten Opfer rückten die Herzen der Menschen wieder zurecht.
Man kann noch so viel von richtigem und falschem Handeln in einem Buch lesen oder Vorträge darüber hören, überzeugt ist ein Mensch doch erst dann, wenn sein Herz durch wahrhaftige Liebe berührt und geführt wird. Und die Trauer und Faszination des Tages Aschura mit all seinen Details öffnet unser Inneres genau dafür: die Liebe für die Wahrheit und das Verabscheuen der Falschheit. Es ist also nicht einfach ein Trauertag, weil irgendjemand getötet wurde oder weil ein Massenmord besonders brutal war. Nein, es war der Paukenschlag der Menschheitsgeschichte im Kampf zwischen Unterdrückern und Unterdrückten, zwischen Wahrheit und Falschheit. Und es ist sowohl ein Paukenschlag des Herzens als auch ein politischer Paukenschlag.
Die unterdrückerischen Kalifen, die nach dem Ereignis von Aschura geherrscht haben, erkannten sehr wohl die Gefahr, die von dem reinigenden Gedenken an diesen Tag ausging. Sie engagierten eigene Hofschreiber, die Überlieferungen fälschten, um von der Erinnerung und der Trauer abzulenken und diesen Tag zu einem Feiertag zu machen, sie wussten ja, wie viel politische Sprengkraft für sie darin steckte, wenn die Herzen der Menschheit erst die Liebe zur Wahrheit und dann die Abscheu für die Falschheit verinnerlichten.
Dass sich manche Anhänger zu Aschura selbst blutig schlugen, begrüßten die Gewaltherrscher dagegen: Wer damit beschäftigt ist, sich selbst blutig zu schlagen, verliert sein revolutionäres Potenzial, das er gegen den eigentlichen Tyrannen richten sollte, und vergisst, wofür Imam Hussein (a.) eigentlich stand und sein Leben gab.
Und wie die Unterdrücker doch in ihrer Furcht vor der Revolution der Herzen Recht behielten. Aschura wurde für alle Zeiten der Beweis für den Sieg des Blutes über das Schwert. Der Paukenschlag Imam Husseins (a.) hallt bis heute nach; die Liebe zur Wahrheit, die er (a.) entfacht hat, hat nicht nur Millionen und Abermillionen von Herzen zur reinen Liebe Gottes zurückgeführt, sondern auch hin zu den Führungspersönlichkeiten der reinen Liebe. Das führt gerade auch in unserem Zeitalter dazu, dass sich immer mehr Völker vom Joch der Unterdrückung befreien.
Schiiten glauben fest, dass der Sieg der Wahrheit über die Falschheit, von dem alle Muslime überzeugt sind, durch das Gedenken an die Märtyrer von Karbala geführt wird. Und so ist es kein Zufall, dass auch heute der von den Unterdrückern der Menschheit am meisten bekämpfte und zum Chefterroristen erklärte Mann dieser Welt der Führer eben jener Macht ist, die sich die Revolution Imam Husseins (a.), die Revolution der Liebe (a.) auf die Flaggen geschrieben hat. Es ist der Ur-Enkelsohn Imam Husseins (a.), Imam Chamenei, das Oberhaupt der Islamischen Revolution, das die Tyrannen unserer Zeit wieder mal zum Terroristen machen möchten.
Doch wer Imam Chamenei kennt, der wird in ihm den Kampf der Liebe zur Wahrheit gegen die Unterdrücker erkennen. Und wenn unser Herz die Liebe zur Wahrheit auch manchmal vergisst, dann hat uns Gott zu Aschura die Gelegenheit geschenkt, sie durch das Opfer Imam Husseins (a.) wiederzuerlangen. Weil nichts außer das ist unser Ziel und nichts anderem gedenken wir Schiiten zu Aschura: Die höchste Stufe der Liebe, die ein Mensch erreichen kann.