„Was erlaubt der sich, dass er als jemand, der nicht an der Hauza[1] studiert hat und weder die Grundlagen der arabischen Sprache noch Usul[2] noch Tafsir[3] noch islamische Geschichte noch Fiqh[4] noch Ilm-ul-Ridschal[5] studiert hat, sich zu islamischen Themen äußert?“ Solche und ähnliche Sprüche schwappen immer mal wieder aus der Ecke von Hauza-Studenten zu mir als Autor bei Offenkundiges oder auch als Referent zu verschiedenen Themen rüber. Ich bin aber nicht der Erste, der das zu hören bekommt, und werde wohl auch nicht der Letzte sein.

Seitdem es muslimische Aktivisten gibt, die kein klassisches Hauza-Studium absolviert haben, sich aber auf deutsch zu religiösen Themen äußern, gibt es Widerstand gegen diese, sei es von Absolventen einer Hauza oder von anderen. Bereits zu Zeiten der islamischen Gemeinschaft in Clausthal in den 80er Jahren, so berichtet Dr. Yavuz Özoguz, gab es diesen Konflikt. Damals hielt Muhammad Ali Ramin in Clausthal regelmäßig das traditionelle Freitagsgebet ab und predigte auf deutsch. Anstatt dieses fortschrittliche Novum zu unterstützen – es ist religionsrechtlich nicht Voraussetzung, dass das Freitagsgebet von einem ausgebildeten Theologen verrichtet wird –, gab es hiergegen vonseiten einer Gruppe von Gläubigen einen solch heftigen Widerstand, dass sie sich hierüber sogar schriftlich bei Imam Chomeini beschwerten. Dieser wiegelte die Beschwerde damals in diplomatischer Form mit den Worten „cheir inschallah“ ab, sinngemäß übersetzt „alles halb so schlimm“, und Muhammad Ali Ramin führte seine Freitagsgebete wie gewohnt fort.

Seit etwa zehn Jahren gibt es in Deutschland eine neue Entwicklung, die dazu geführt hat, dass dutzende Aktivisten in ganz Deutschland in ihren Moscheen, Husseiniyas und Zentren in deutscher Sprache zu islamischen Themen Vorträge halten und Kinder- und Jugendprogramme leiten. Es gibt eine ganze Reihe von Internetseiten, die nicht von Gelehrten gegründet wurden oder gar geleitet werden und die spezifisch islamische Themen behandeln. Grund hierfür ist, dass es bis dato nicht mal eine Handvoll ausgebildeter Theologen gibt, die diese Aufgaben in deutscher Sprache wahrnehmen könnten. In Deutschland haben wir derzeit mindestens fünfzig ausgebildete schiitische Theologen, die Absolventen der klassischen Hauzas im Irak, im Iran und im Libanon sind. Hinzu kommen mehrere dutzend Gelehrte, die Jahr für Jahr für wenige Wochen zu Besuch in Deutschland sind und hier von Stadt zu Stadt unterwegs sind, da die vorhandenen Gelehrten den Bedarf der schiitischen Gemeinden in Deutschland bei weitem nicht decken können. Aber auch die Gelehrten mit Besuchsvisum können die große Nachfrage nicht in ausreichendem Maße sättigen, sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht. Weder reicht ihre Anzahl aus, noch ist es ihnen in inhaltlicher Hinsicht vergönnt, die Anliegen der Schia und der hiesigen Gesellschaft in der kurzen Besuchszeit zu berücksichtigen. Das führt nicht selten dazu, dass sie in ihren Vorträgen Themen behandeln, die womöglich für das Gros der Schia in Deutschland nicht oder nur in geringem Maß relevant sind, insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene.

Diese Lücke haben in den letzten Jahren junge und ältere Aktivisten gefüllt. Sie sind in deutscher Sprache auf Bedürfnisse der hiesigen Schia eingegangen, sowohl was deren Alltagsprobleme als auch gesellschaftliche und politische Themen betrifft. Dass es unter jenen auch schwarze Schafe gibt, soll nicht ausgeblendet werden, im Gegenteil, es gibt enorme Bemühungen, solche Aktivisten zu entlarven und zu stoppen. Jedoch schützt auf der anderen Seite ein Hauza-Studium und das Tragen eines Turbans ebenfalls nicht davor, gefährliche oder falsche Lehren und Ansichten zu verbreiten. Das Gefahrenpotenzial ist bei Gelehrten sogar höher, da die Allgemeinheit dazu neigt, Gelehrte, die einen weißen oder schwarzen Turban tragen, als absolut glaubens- und vertrauenswürdig einzuschätzen.

Muslimische Aktivisten bzw. Prediger ohne theologische Ausbildung – die Christen benutzen hierfür gerne auch den Begriff „Laienprediger“ – sind aber längst nicht mehr nur Lückenfüller. Sie sind fester Bestandteil der deutschen schiitischen Gemeinschaft, sowohl als Gemeindeleiter als auch als Organisatoren, Referenten oder Autoren. Ihre Arbeit ist aus den Gemeinden nicht mehr wegzudenken. Und unabhängig von allen politischen und gar theologischen Differenzen zwischen den Gläubigen in Deutschland besteht eine breite Einigkeit darüber, dass die islamische Gemeinschaft diese Aktivisten mehr denn je benötigt.

Die gemeinsame Zukunft von Gelehrten und Aktiven in Deutschland

In der Zwischenzeit hat sich eine zweistellige Zahl junger Muslime zum Islamstudium an die theologischen Hochschulen in Qum (Iran), Nadschaf (Irak), Baalbak (Libanon) oder Hamburg begeben. Einige haben dort bereits höhere Stufen der Lehre erreicht, einige wenige sind bereits aus dem Ausland zurückgekehrt oder sind regelmäßig zu Besuch in Deutschland und andere werden in naher Zukunft folgen. Die meisten von ihnen sind mit der Absicht an eine Hauza im Ausland gegangen, irgendwann wieder nach Deutschland zurückzukehren und den Schiiten mit ihrem Wissen, ihrer Weisheit und ihrer Spiritualität zu dienen. Die deutsche schiitische Gemeinschaft erwartet diese jungen Gelehrten zurecht sehnsüchtig zurück.

Wie aber wird nach der Rückkehr dieser Gelehrten ihr Verhältnis zu den muslimischen Aktivisten, zu den Rednern, Predigern, Autoren und Gemeindeleitern sein? Wie wird es umgekehrt sein? Wie sollte es idealerweise sein?

Ich denke, man kann hierzu sehr gut das Beispiel Iran nennen. Trotz tausender Gelehrter im Iran gibt es dort eine ganze Reihe anerkannter muslimischer Aktivisten, die kein klassisches Hauza-Studium absolviert haben, die aber regelmäßig Vorträge zu verschiedenen Themen, auch zu religiösen Angelegenheiten halten. Sie sind vor allem auf Veranstaltungen der Basidsch oder der Revolutionsgarden gern gesehene Gäste und Redner, und bei ihren Vorträgen sitzen hochrangige Gelehrte als aufmerksame Zuhörer in der ersten Reihe. Der vorgenannte Muhammad Ali Ramin gehört übrigens zu diesen anerkannten Aktivisten.

Eines der bekanntesten Beispiele war Radschab Ali[6], ein einfacher Schneider, dem es ohne klassische theologische Ausbildung gelang, mit seiner Gottesehrfurcht und -nähe die Menschen um sich herum in seinen Bann zu ziehen, und der hohen Gelehrten als Ratgeber diente. Es gibt im Iran also eine gegenseitige Ergänzung zwischen Gelehrten und Aktivisten.

In Deutschland sollte es nicht anders sein. Anstatt dass die eine oder die andere Seite den jeweils anderen als Konkurrenten oder gar als Gefahr für die eigene Stellung sieht, sollten beide Seiten die Aktivitäten und Arbeiten der jeweils anderen Seite als Ergänzung ihrer eigenen Arbeit sehen. Gelehrte können viele Themen besser behandeln, ansprechen und didaktisch darstellen als aktive Nicht-Gelehrte.

Dahingegen gibt es sicher auch eine ganze Reihe von Themen, die, beispielsweise auch zum Schutz der Gelehrten, besser von einfachen Aktivisten als von den Gelehrten selbst angesprochen und behandelt werden können. In mancherlei Situation ist es im politischen oder medialen Bereich vonnöten, dass Gelehrte zu Wahrung ihrer Stellung und zum eigenen Schutz vor dem Staat und den Medien etwas zurückhaltender agieren, Aktivisten hingegen umso engagierter und deutlicher sein müssen. Hierzu gibt es sogar Beispiele aus der Geschichte der Imame, welche bisweilen im Verborgenen hinter Aufständen bestimmter Gruppen standen und diese unterstützten, sich in der Öffentlichkeit aber zurückhielten. So geschehen wohl beim Aufstand von Muchtar al-Thaqafi oder von Zaid ibn Ali. Beide Aufstände waren sehr wahrscheinlich durch Imam Ali ibn Hussein im Hintergrund abgesegnet worden, vordergründig unterstützte der Imam diese Bewegungen zum Schutz seines Amtes aber nicht, da es wichtiger war, dass der Imam sich in dieser Zeit öffentlich zurückhält und solange wie möglich am Leben bleibt, da die Anhängerschaft der Schia nach dem Massaker von Aschura neu aufgebaut und die islamische Umma insgesamt regeneriert werden musste.

Aber zurück in die heutige Zeit: Es kann vor allem gesellschaftliche Themen geben, in denen Nicht-Gelehrte eine Expertise haben, die bei Gelehrten nicht im selben Maß vorhanden ist, wie z. B. im Bereich Pädagogik, Psychologie, Soziologie oder Wirtschaft. Gelehrte werden und müssen sich zu all diesen Themen sicher äußern, können aber durch wichtige Beiträge, Impulse und Ideen der Aktivisten ergänzt werden. Diese Form der Ergänzung gibt es bereits, sie sollte vertieft werden und sie sollte selbstverständlich auf Gegenseitigkeit beruhen.

Allerdings sollte dies nicht in einer losen Form geschehen, sondern es sollte idealerweise eine organisierte und konstruktive Kooperation und Abstimmung geben, z. B. im Rahmen eines Beratungsgremiums oder gar eines Forschungszentrums (Stichwort Thinktank). „Arbeitet zusammen auf Grundlage des Guten und der Gottesehrfurcht“ (5:2) heißt es hierzu im Quran. An einer anderen Stelle heißt es über die Gläubigen: „Und die auf ihren Herrn hören und das Gebet verrichten, ihre Angelegenheiten durch Beratung regeln und von dem, was Wir ihnen beschert haben, spenden.“ (42:38)

Wenn wir von islamischer Einheit sprechen, dann sollte die konstruktive Einheit zwischen Gelehrten und Aktivisten in Zukunft zu den wichtigsten Angelegenheiten gehören. Die Allgemeinheit schaut auf uns, sie schaut darauf, wie wir miteinander umgehen, wie wir übereinander sprechen. Wir haben eine gemeinsame und sehr große Verantwortung. Wir sind alle aufgerufen, unser Ego beiseitezulassen und an unsere Aufgaben zu denken.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass ich mich mit dieser Ansicht nicht im luftleeren Raum befinde, sondern dass es sich hierbei um eine feste Lehre von Imam Chamenei handelt. Er ruft in seinen Reden immer wieder die sog. Eliten, also die Gebildeten, die Hoschulabsolventen, zur Aktivität auf dem Wege des Islam auf, also vor allem im religiösen, politischen, gesellschaftlichen und medialen Bereich. Und er sagt hierzu auch immer wieder, dass dies nicht allein den Gelehrten obliegt, wenn sie auch aufgrund ihrer Stellung eine größere Verantwortung haben. Diese hohe Stellung der Gelehrten ist im Idealfall „Erbe der Propheten“, wie sie der Prophet beschrieb. Hierbei sollte die Stellung der Aktivisten „Erbe der Prophetengefährten“ sein. Und wer die Geschichten der Propheten und der Imame kennt, der weiß auch, dass Allah ihnen stets treue Gefährten zur Seite stellte, die sie in jedweder Hinsicht unterstützten, und dass die Propheten und Imame diese Unterstützung sehr gerne annahmen und schätzten.


  1. Arabischer Begriff, der für die religiösen Hochschulen verwendet wird. ↩︎

  2. Grundlagen der islamischen Wissenschaften ↩︎

  3. Quran-Kommentierung ↩︎

  4. Im engeren Sinne wird der Begriff für islamisches Recht verwendet; im weiteren Sinne kann damit die gesamte Religion gemeint sein. ↩︎

  5. Wissenschaft über die sog. Gewährsmänner, die Überlieferer von Aussprüchen des Propheten und der Imame und Ereignissen; essentieller Bestandteil der Wissenschaft der Überlieferungen. ↩︎

  6. http://www.eslam.de/begriffe/r/radschab_ali_nikuguyan.htm ↩︎