Reformen im Islam sind mittlerweile Kult, sie sind gut angesehen, vor allem in der nicht-muslimischen Gesellschaft. Dabei implizieren Reformen,
a) dass der Islam bisher zwar richtig gedeutet und ausgelegt wurde, aber die Regelungen nicht mehr zeitgemäß und daher nicht vollständig umsetzbar sind; oder
b) dass der Islam bisher falsch gedeutet wurde und daher einer neuen Auslegung Bedarf.
Die Vertreter beider Gruppen verfolgen eine gewisse Absicht, welche bewusst oder unbewusst verfolgt wird, und zwar der Drang nach Profilierung. Dies entspringt aus dem menschlichen Ego.
Gehört man zu der Gruppe von Muslimen, die glauben, dass Reformen notwendig sind, weil islamische Regelungen nicht zeitgemäß und nicht immer umsetzbar sind, so steht man einigen Fragen gegenüber: Wer entscheidet, ob die islamischen Regelungen zeitgemäß und umsetzbar sind? Und ist der Islam keine universelle Religion? Sind Reformen nach der Vollendung der Offenbarung möglich?
Gehört man hingegen zu der Gruppe von Muslimen, die behaupten, dass Reformen eingeführt werden müssen, da der Islam bisher falsch gedeutet wurde und der wahre Islam anders gewesen ist, stellen sich ebenfalls einige Fragen: Was ist der „wahre Islam“? Der Wunsch, den wahren Islam zu finden und der Welt zu verkünden ist ein fragwürdiger Wunsch. Denn der wahre Islam wurde bereits durch den Propheten Muhammad (s.) verkündet. Es gibt keinen anderen Islam als den Islam, der bereits verkündet wurde. Und genau hier liegt der entscheidende Punkt. Theologen, die tiefgründiges Wissen in den islamischen Lehren haben und mehr als 30–40 Jahre den Islam studieren, verfolgen nicht das Ziel, den wahren Islam noch finden zu wollen; vielmehr sprechen sie davon, das vorhandene Wissen weiter zu konkretisieren. Theologen mit diesem Gedankengut lehnen daher „Reformen“ als solche ab.
Eines der Themen, das von dem Drang nach Reform betroffen ist, ist das Kopftuch. Viele muslimische Feministinnen, die sich übrigens auch als Islam-Expertinnen vorstellen, sind der Auffassung, dass die Auslegung des Kopftuches im Koran bisher falsch erfolgt ist, d. h. die bisherigen Analysen der Experten werden für falsch erklärt. Aber auch die Stellung der Frau im Allgemeinen wird aus islamischer Sicht neu bewertet. Die sozialen Rollen der Geschlechter werden infrage gestellt und neu definiert. Beispielsweise sollen laut einiger muslimischer Feministinnen auch Frauen Imame sein dürfen. Dabei geht es nicht wirklich um die Stellung des Imams, die Frauen übernehmen möchten. Es geht vielmehr um eine Aufwertung der Frau gegenüber dem anderen Geschlecht. Im Bereich Sexualität sind ebenfalls starke Tendenzen zu Reformen sichtlich. Mittlerweile wird Homosexualität als Normalität gesehen und das Verbot dazu wird innerhalb der muslimischen als auch nicht-muslimischen Gesellschaften kontrovers diskutiert.
Der zunehmende Wunsch nach Reformen führt unweigerlich zu der Frage, wie eigentlich der Wunsch nach Reformen entstanden ist. Was passiert im Westen, wie kommt es zu diesem Hype um Reformen im Islam? Und wieso sind vor allem die Muslime im Westen dazu geneigt, den Islam zu reformieren?
Zuallererst muss festgehalten werden, dass die Position der Muslime im Westen anders ist als die der Muslime in den islamischen Ländern. Die Muslime im Westen sind permanenter Kritik am Islam – ihrer Religion – ausgesetzt und müssen sich immer wieder mit Themen wie Homosexualität, Todesstrafe, Kopftuch auseinandersetzen und hier schließlich Erklärungsansätze liefern. Dahingegen sind Muslime in den islamischen Ländern wenig bis nie in der defensiven Position, da sie in ihrer unmittelbaren Nähe wenig Kontakt zu Andersgläubigen oder Islam-Kritikern haben.
Die Muslime im Westen lernen den Islam im Kindesalter kennen und sie wachsen mit all den islamischen Lehren auf. Durch den Eintritt in die Schule nimmt der Kontakt mit Andersgläubigen zu, sodass die vermeintlich kritischen Themen immer präsenter werden und die Auseinandersetzung mit diesen unumgänglich. Die Vorwürfe, die man von Nichtmuslimen erfährt, werden aufgenommen und es wird der Versuch gestartet, diese Vorwürfe dem vorhandenen Wissen gegenüberzustellen, um für sich selbst eine Antwort zu finden. Ist allerdings kein handfestes Wissen vorhanden, wird die Gegenüberstellung mangelhaft sein und die Erklärungen, die man für Themen wie Homosexualität, Todesstrafe oder Kopftuch dann schließlich unternimmt, sind fehlerhaft. Es geht dann so weit, dass man zu dem Schluss kommt, dass die islamischen Regelungen zu diesen kritischen Themen tatsächlich fragwürdig sein könnten.
Die fehlende Grundlage und die daraus resultierende fehlerhafte Reflexion führt dazu, dass man
a) entweder tatsächlich an der eigenen Religion zweifelt; oder
b) sich viel intensiver mit der Thematik auseinandersetzt, indem der Kontakt zu einem Theologen aufgebaut wird, Bücher von Theologen gelesen werden usw.; oder aber
c) man versucht ohne eine feste Grundlage durch eigene Ideen und Analysen die Lücken zu schließen, wobei man hier die bisherigen Analysen und Erkenntnisse der Experten für falsch erklärt und umändert.
Der letzte Weg ist der beste Weg, um das eigene Ego zu befriedigen: Die eigene Religion ist fehlerfrei, das eigene Wissen wird nicht hinterfragt, die Arbeit Anderer wird als ungenügend bewertet – das Ego ist befriedigt.
Da nun der Mensch grundsätzlich seine Religion schwer leugnen kann und auch nicht damit leben kann, seine eigene Religion als fehlerhaft zu sehen; und da der Kontakt zu Theologen mit professionalisierter Ausbildung nicht immer möglich ist, wählt man oftmals den letzten Weg und versucht eigenständig Argumente für kritische Fragen zu liefern.
Dieser Prozess, durch den viele Muslime in Deutschland gehen, zeigt, dass durch ein fehlendes Grundlagenwissen eine falsche Haltung eingenommen wird und dabei eine falsche Motivation entsteht. Eine große Gefahr stellen hier insbesondere Islam-Studiengänge an deutschen Hochschulen dar. Diese vermitteln zwar Grundkenntnisse im Bereich Quran und Hadith, doch ein tiefgreifendes Wissen wird nicht vermittelt. Die Universität als staatliche Institution sieht auch keine Notwendigkeit darin, Lehren von großen Denkern aus der islamischen Welt, wie beispielsweise Ruhollah Chomeini, Morteza Motahhari oder Mesbah Yazdi zu thematisieren, denn Ziel des Staates ist es, das islamische Gedankengut zu kontrollieren. Bemerkenswert an dieser Stelle ist, dass die Befürworter der Reformen im Islam oftmals Muslime sind, die nicht an einer islamischen Institution den Islam studiert haben.
Bedauerlicherweise erkennen genau diese Islam-Studenten all diese Aspekte nicht und glauben, dass ihr Islam-Studium an einer nicht-islamischen Institution sie dazu befähigt, eigene Auslegungen zu machen. Selbst die Wissenschaftlichkeit und die Methodik, die sie in ihrem Studium erlernen, können sie nicht vollständig dafür nutzen, in der islamischen Literatur genaue Recherchen zu betreiben, sei es aufgrund fehlender Sprachkenntnisse oder weil bestimmte Länder als Wissensquelle aus politischen Gründen abgelehnt werden.
Schlussendlich führt all dies dazu, dass immer mehr Muslime, ob mit oder ohne Islamstudium, sich zu Wort melden; es entstehen immer neue Interpretationen, neue Sichtweisen, neue Argumente zu kritischen Themen. Und all diejenigen, die eine Idee entwickeln, möchten ihren Durchbruch an die Öffentlichkeit bringen.
Diejenigen, die Reformen herbeiführen möchten, stehen eigentlich vor einem Problem: Sie können gewisse islamische Regelungen rational nicht auf die Weise begründen, oder keine handfesten Quellen vorzeigen, oder wissen nicht, wie man gewisse Sachverhalte gut erklären könnte, sodass keine Missverständnisse entstehen. Daher sind Reformen im Islam der bequemere Weg.
Dass der Islam noch bis heute nicht auf die beste Art und Weise erklärt werden kann, ist allerdings auch nicht zu leugnen. Die Muslime im Westen sind oftmals in Erklärungsnot und sind nicht immer geübt darin, Antworten zu liefern. Entweder fehlt ihnen das Wissen dazu oder die Motivation. Wenn wir also Kritik üben möchten, so sollte sie an die Muslime selbst gerichtet sein. Die Muslime sollten nicht darum bestrebt sein, den Islam zu verändern oder anzupassen; vielmehr sollte man die Erklärungen und Argumentationen auf die Weise anpassen und optimieren, dass der wahre Islam zur Geltung kommt.
Um auch noch Mal die Frage aufzugreifen, wer dazu befähigt ist, den Islam auszulegen: Ayatullah Motahhari stellt in seinen Unterrichtslektionen über die Logik die These auf, dass der Mensch entweder einem Experten folgen oder selber die Expertise über die Deutungsfähigkeit besitzen sollte. Wie der Mensch eine solche Expertise erlangen kann und ab wann er als Experte gilt, ist eine Frage, über die es sich lohnt, zu diskutieren.