Samstagmorgen, 8 Uhr. Am Treffpunkt stehen fünfzig Personen, Mütter mit Babys, Familien mit kleinen und großen Kindern, jung und alt. Die Stimmung ist heiter und wir warten gespannt auf den Bus. Ein Blick in die Runde verrät das Ziel dieser Reise: Es geht nach Berlin zum internationalen Qudstag. Endlich biegt der Bus um die Kurve. Jetzt muss es schnell gehen. Während die Schwestern mit den Kleinen in den Bus steigen, helfen die Brüder dabei, Getränke, Snacks, Banner und Fahnen in den Bus zu laden. Endlich, es geht los: Gerechtigkeit, wir kommen! Viele Besucher des internationalen Qudstags in Berlin kennen diese Prozedur.
Wollte man den ganzen Tag in einem Satz beschreiben, würde er wie folgt lauten: Nach einer wunderbaren Busfahrt mit reichlicher Verpflegung erwartet uns in Berlin ein kurzer Spaziergang. So viel zum Qudstag in Deutschland. Doch wie sieht es international aus? Dieser Tag wird von Millionen Menschen aller Religionen mit großem Einsatz belebt. Und es werden jährlich mehr. Dabei gehen viele Besucher in ihren Heimatländern durch ihre Teilnahme an den jeweiligen Demonstrationen große Risiken ein. Unterdrückerische Regime ohne Achtung der Menschenrechte, Freunde des Westens und Israels, gehen massiv gegen die Demonstranten vor. Und dennoch zieht es jährlich zehntausende Menschen auf die Straßen. Von Griechenland bis Kanada, von Bagdad bis Palästina, der Qudstag wird in vielen Ländern dieser Erde veranstaltet.
Großbritannien – In London kamen am Sonntag, den 3. Juli 2016 tausende Menschen zum Qudstag zusammen. Der Marsch begann um 15:30 Uhr am BBC Broadcasting House in Portland Place und endete gegen 17 Uhr nach einer Strecke von 1,56 km vor dem Gebäude der amerikanischen Botschaft. Letztes Jahr kam es in London erstmals zu Gegendemonstrationen durch Unterstützer des Zionismus. Der Marsch wird dort jährlich von der Human Rights Commission organisiert. In diesem Jahr hat es die Menschen in London wieder auf die Straßen getrieben, um für die Rechte der Palästinenser zu demonstrieren. Angeführt wurden sie von mehreren islamischen und jüdischen Geistlichen.
Italien – Auch in Rom wird der Qudstag zelebriert. Im Ramadan 2015 kamen mehrere tausend Menschen zusammen. Der Friedensmarsch wurde von der syrischen Gemeinde initiiert. Unter den Teilnehmern waren auch Gemeindemitglieder der griechisch-katholischen Melkita Kirche und ihr Pfarrer Matanios Haddad. „Es ist eine Pflicht, diesen großartigen Tag des Quds zu feiern, da wir glauben, dass Quds die Hauptstadt aller Religionen ist, nicht nur einer“, so der Pfarrer Haddad. Er wies auf die Koexistenz vieler Religionen in Syrien hin und darauf, dass die vom Westen unterstützten Rebellen die Destabilisierung der Region zum Ziel haben.[1]
USA – In Amerika fanden die Demonstrationen 2016 gleich in mehreren Städten statt. Ob Washington, Boston oder New York, die Menschen kamen zusammen, um für das Ende der Apartheid in Israel zu demonstrieren. In Chicago kamen am 1. Juli hunderte Menschen zum Daley Plaza und setzten sich für ein Ende der Unterdrückung ein. Muslime, Juden und Christen demonstrierten an diesem Tag gemeinsam für die Befreiung Palästinas. Die Schülerin Masooma Haidar sprach damals über die Verletzungen der Menschenrechte durch Israel: „Es ist nicht nur ein palästinensisches oder arabisches Problem oder ein muslimisches Problem, jetzt ist es jedermanns Problem.“ Die Gegendemonstrationen hielten sich in Grenzen. In New York und Boston waren jeweils fünf Freunde Israels anwesend.[2] [3]
In Deutschland sind die Gegendemonstranten zahlreicher und werden von Politikern unterstützt. Viele der Gegendemonstranten versuchen guerillamäßig die Teilnehmer des Qudstags zu provozieren. In den meisten Fällen sind die Polizisten darauf vorbereitet. Sie sind darum bemüht, die Sicherheit der Teilnehmer zu gewährleisten. In anderen Ländern ist es nicht so, vielmehr ist das Gegenteil der Fall.
Pakistan – Ich habe Arifa Naqvi, eine Aktivistin für Menschenrechte, über ihre Erfahrungen zum Qudstag in Pakistan befragt: „In Karachi, Lahore, Islamabad und auch anderen Städten kommen Kinder, Frauen, Männer und sogar Menschen mit Behinderungen auf die Straße. In Karachi sind es ca. 15.000 Menschen. Die Sicherheitslage ist sehr schlecht, daher versuchen private Organisationen die Sicherheit zu bewahren, indem alle Busse vorher kontrolliert werden. Erst dann holen sie die Menschen ab. Am Startpunkt werden viele Checkpoints gebildet. Die Sicherheitskontrollen werden von Ehrenamtlichen durchgeführt. Nach dem Checkpoint darf nur zu Fuß weitergegangen werden. Jedes Jahr gibt es viele Bedrohungen durch Bombenanschläge. Im Jahre 2012 wurde ein Bus attackiert, zwei Teilnehmer starben und mehrere wurden verletzt. Wenn wir in Pakistan zum Marsch gehen, dann wissen wir ganz genau, dass alles Mögliche passieren könnte – aber trotzdem nehmen wir daran teil. Um uns vor Tränengas zu schützen, hat jeder einen Rucksack dabei, in dem sich Wasser, ein paar Tücher und Salz befinden. Es ist nicht nur durch die Feinde gefährlich, sondern es ist auch extrem heiß. Fast fünfzig Grad. Viele private schiitische Organisationen sprühen mit Maschinen Wasser über die Menschen.“
Wer so wie ich einen gemütlichen Spaziergang in Berlin gewohnt ist, erschrickt über die Umstände in anderen Ländern. Der Mut, mit dem Menschen für Gerechtigkeit einstehen, die selber unter einer ungerechten Regierung leiden müssen, ist bemerkenswert und lässt einen über die eigenen Opfer nachdenken. Was haben wir in Deutschland schon zu befürchten?
Nigeria – Obwohl es im Ramadan 2014 zu einem Massaker durch nigerianische Soldaten kam, die wahllos das Feuer auf friedliche Teilnehmer des Qudstages eröffneten und 35 Menschen töteten, strömten die Menschen in den darauffolgenden Jahren millionenfach auf die Straßen Zaires. Die Menschen trugen zudem weiße T-Shirts mit der Aufschrift: „Free Scheikh Zakzaky“ (Freiheit für Scheich Zakzaki). Der Marsch wird von der Islamic Movement of Nigeria (IMN) organisiert, dessen Anführer der inhaftierte Geistliche Scheich Ibrahim Zakzaki ist. Es ist auch dieses Jahr zu erwarten, dass Millionen Menschen in Nigeria mit dem unterdrückten palästinensischen Volk sympathisieren und den Qudstag so zahlreich besuchen werden, wie es in der Vergangenheit der Fall war. [4]
Bildquelle: islamicmovement.org
Jemen – Gibt es ein Land auf dieser Erde, das in den vergangenen zwei Jahren mehr durchmachen musste als der Jemen? Man müsste meinen, dass die Menschen, unterernährt, auf der Flucht vor Bomben und Artillerie der Monarchen von Saudi Arabien und ihren westlichen Unterstützern, nicht die Kraft finden werden, gegen Ungerechtigkeit in Palästina aufzustehen. Falsch gedacht! Am 1. Juli 2016 kamen mehrere hunderttausend Menschen zusammen, um sich auf die Seite der Palästinenser zu stellen. Ungeachtet der Gefahr, durch die saudischen Kampfjets bombadiert zu werden, setzten sie ein Zeichen gegen Unterdrückung, das es auf der ganzen Welt kein zweites Mal gab.[5]
Bildquelle: alzawaya.net
Angesichts dieser Opferbereitschaft, dieses Widerstandes bin ich zutiefst beschämt. Wie können wir nicht am Qudstag teilnehmen? Was müssen wir dafür opfern? Vielleicht einen Urlaubstag, vielleicht ein wenig Schlaf. Oder fürchten wir uns vor Anfeindungen am Arbeitsplatz. Angesichts dessen, was in anderen Ländern für Gerechtigkeit geleistet werden muss, haben wir es sehr einfach. Wir sehen uns in Berlin.
http://chicagomonitor.com/2016/07/al-quds-day-in-chicago-2016/ ↩︎
http://www.timesofisrael.com/world-jewry-off-guard-as-al-quds-day-protests-castigate-israel-from-baghdad-to-boston/ ↩︎
https://www.thisdaylive.com/index.php/2016/07/01/quds-day-millions-of-shia-group-hold-procession-across-nigerian-cities-unmolested/ ↩︎
http://www.yemenpress.org/article/yemen-will-mark-international-quds-day.html ↩︎