Ali, möchtest du nicht erzählen, woher du kommst, und weshalb deine Eltern geflüchtet sind? Das fragte mich damals, kurz nach dem 11. September, meine Klassenlehrerin. Die meisten in meiner Klasse wussten hierüber eigentlich Bescheid und kannten mich seit Jahren gut, aber da ich der einzige Muslim in der Klasse war, der dazu noch aus dem Libanon kam, war meine Lehrerin wohl der Ansicht, dass ich dem Nahost-Konflikt, der nach allgemeiner Auffassung mit den Anschlägen vom 11. September eng zusammenhing, am nächsten stünde. In der Retrospektive mutet diese Situation seltsam an, aber ich habe damals die Chance genutzt und mich intensiver mit der Geschichte des Bürgerkrieges im Libanon und des Nahost-Konfliktes auseinandergesetzt. Bis heute habe ich nicht verstanden, wer im libanesischen Bürgerkrieg wann gegen wen und weshalb gekämpft hat. Selbst wenn die Wunden des Krieges offensichtlich bis heute nicht verheilt sind, sind sich alle Libanesen einig, dass so etwas nie wieder passieren darf.
Im Gegensatz dazu war der Palästina-Konflikt, der Kern aller Konflikte in der arabisch-islamischen Welt, für mich von Anfang einfach zu verstehen. Auch weil sich faktisch nur zwei Parteien gegenüberstehen: Zionisten und Palästinenser.
Ein Jahr vor den Anschlägen des 11. September war in Palästina die zweite Intifada ausgebrochen. Deswegen vermuteten einige arabische Verschwörungstheoretiker auch Israel hinter den Anschlägen vom 11. September – so schaute niemand mehr auf die Verbrechen der Scharon-Regierung gegen die Palästinenser. Heute erinnere ich mich vage an das Massaker von Dschenin[1], an den jungen Faris Odeh[2], der mutig vor einem israelischen Panzer stand, und an die Festnahme des Hoffnungsträgers der Palästinenser Marwan al-Barghouti[3], der als Nachfolger des mittlerweile vergifteten Yassir Arafat gehandelt wurde. Die Israelis wussten genau, wen sie da festnahmen. Bis heute ist er in politischer Haft. Aber was sind schon fünfzehn Jahre Gefängnis im Vergleich zu siebzig Jahren Besatzung?
Wir stehen vor den Vorbeben einer dritten Intifada
Heute, etwa siebzehn Jahre nach der zweiten Intifada, dem Juli-Krieg 2006[4], den Gaza-Kriegen 2008/2009, 2012 und 2014[5], dem Syrien-Krieg seit 2011, dem sog. Arabischer Frühling, etlicher gescheiterter sog. Friedensinitiativen in Palästina, dem Bau einer Mauer um und durch das Westjordanland und der gnadenlosen Besiedlung durch israelische Siedler stehen wir offenbar vor dem Vorbeben einer dritten Intifada. Auslöser ist die Entscheidung des US-Präsidenten Trump, die Stadt Jerusalem als Hauptstadt eines Staates Israel anzuerkennen und die Botschaft der USA von Tel Aviv dorthin zu verlegen. Beobachter meinen, die Amerikaner hätten einfach das Schild ihres in Jerusalem befindlichen Konsulats auswechseln können. Aber darum ging es bei dieser Entscheidung offensichtlich nicht. Es geht nicht um Formalitäten, es geht um Symbolik.
Sicher, die Entscheidung ist keine Überraschung, die US-Amerikaner haben bereits in den 90ern beschlossen, dass sie Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennen wollen,[6] nur umgesetzt haben sie das erst jetzt.
Auch der Zeitpunkt überrascht nicht: 100 Jahre nach der Balfour-Deklaration – eine weitere Symbolik –, kurze Zeit nach der militärischen Zerschlagung des IS in Syrien und im Irak durch die Feinde Israels, des Scheiterns eines geplanten Kurden-Staates im Nordirak und in angrenzenden Gebieten und der damit verbundenen Beisetzung der US-amerikanischen Pläne für einen neuen Nahen Osten mit einem zersplitterten Syrien und einem dreigeteilten Irak. Da will man wenigstens Jerusalem nicht verlieren.
Jerusalem gehört den Palästinensern
Aber wem gehört Jerusalem tatsächlich? Gehört es den Zionisten, die im Apartheidssystem Israel ihre Heimstätte sehen? Oder gehört es den Palästinensern? Gar den Muslimen? Oder vielleicht den Christen?
Der Status Jerusalems ist nicht abtrennbar vom Status des gesamten Landes Palästina und umgekehrt. Und daraus ergibt sich auch die Antwort, wem Jerusalem, ganz Jerusalem, gehört: den Palästinensern.
Jedwede Einwände, diese Behauptung wäre falsch oder realitätsfern, es würde den aktuellen Gegebenheiten, gar dem Völkerrecht, dem UN-Teilungsbeschluss von 1948 oder anderen Entscheidungen und Beschlüsse widersprechen, gehen schlicht fehl. Ein Völkerrecht, das Vertreibung, ethnische Säuberungen, Staatsterror und Mord deckt, hört auf, legitimes Völkerrecht zu sein, selbst wenn die gesamte Staatengemeinschaft versucht dieses durchzusetzen. Der sog. Staat Israel ist das Ergebnis massenhaften Bruchs jeglicher Rechtsnormen und Menschenrechte. Seine gelebte Praxis ist Rassismus und Terrorismus.
Vor der Besatzung und Gründung des zionistischen Apartheidsstaates Israels lebten in Palästina Juden, Christen und Muslime über Jahrhunderte hinweg friedlich neben- und miteinander. Alle hatten freien Zugang zu den für sie heiligen Stätten in Jerusalem und an anderen Orten wie z. B. Betlehem oder Hebron. Alle waren gleichberechtigt.
Es gibt keinen sog. historisch-biblischen Anspruch der heutigen Juden auf Palästina
Mit welchem Recht sollten also Menschen, deren Vorfahren seit Generationen nicht in Palästina lebten und sehr wahrscheinlich nie dort gelebt haben,[7] einen Anspruch auf das Land Palästina erheben und die dort seit Jahrhunderten lebenden Araber vertreiben und ermorden? Auf Grundlage der Bibel? Weil das Heilige Land bereits vor 2000 oder 3000 Jahren den Israeliten versprochen worden sei? Wo gibt es denn heute, 2000 bis 3000 Jahre später, noch Israeliten? Sind die heutigen Juden Israeliten – oder nicht vielmehr Russen, Polen, Ukrainer, Tschechen, Österreicher, Deutsche, Franzosen, Engländer, Amerikaner und Äthiopier? Ist es nicht möglich, dass ein Großteil der heutigen muslimischen und christlichen Palästinenser Nachfahren eben jener Israeliten sind, die damals weder vertrieben wurden, noch fliehen mussten? Was geschieht, wenn heute eine Gruppe von Menschen kommt, die behauptet, dass deren (angebliche) Vorfahren bereits vor den Israeliten dort lebten und deshalb auch einen Anspruch auf Palästina erheben? Was geschieht in der Welt, wenn heute überall Gruppen von Menschen auftauchen, die aufgrund historischer Dokumente hier und dort Anspruch erheben auf Länder und Staatsgebiete, in denen seit Jahrhunderten andere Völker leben? Diese Fragen müssen angesichts des zionistischen Gründungsmythos gestellt werden.
Eine weitere entscheidende Frage lautet: Seit wann ist im Westen die Bibel bzw. das Alte Testament ein Maßstab für Recht und Ordnung, für Erhebung von Ansprüchen auf Länder, gar für die Zuordnung von Ländern zu bestimmten Völkern und Religionsgruppen? Oder sucht man sich aus der Bibel nur die Rosinen raus, die vermeintlich die eigene Politik stützen? Selbst wenn es ein offensichtlich anderes Thema ist; dennoch stellt sich auch diese Frage: Wie können Menschen, die für sich einen biblischen Anspruch auf Palästina erheben, Homosexualität, also eine in jeder Hinsicht anti-biblische und anti-religiöse Praxis, in dieser Form unterstützen, wie es Israel tut?[8]
Mal hypothetisch angenommen, es gäbe einen solchen biblisch-historischen Anspruch der heutigen Juden bzw. der zionistischen Bewegung auf das Land Palästina; rechtfertigt dieser Anspruch die gewaltsame und brutale Vertreibung der seit mehreren hundert Jahren dort lebenden Menschen? Deren Ermordung? Deren Behandlung als Menschen dritter Klasse? Die Enteignung ihres Hab und Guts? Deren systematische Ausrottung über Jahrzehnte hinweg?
Jerusalem gehört allen Monotheisten
Die Stadt Jerusalem ist die Wiege der abrahamitischen Religionen, die Hauptstadt des Monotheismus. Diese Stadt gehört weder den Juden noch den Muslimen noch den Christen allein. Sie gehört allen Anhängern Abrahams. Keine Religionsgruppe hat das Recht auf einen Alleinanspruch auf diese Stadt.
Für Muslime ist diese Stadt von essentieller spiritueller Bedeutung. Sie ist sowohl die erste Gebetsrichtung als auch Ausgangspunkt der bekannten Himmelfahrt des Propheten Muhammad (s.). Insbesondere letztere ist in religiöser Hinsicht nicht zu unterschätzen oder kleinzureden. Denn es drängt sich die Frage auf, ob der Prophet die Himmelfahrt nicht auch von Mekka oder Medina aus hätte beginnen können? Warum wird dieser Aufwand der Nachtreise von Mekka nach Jerusalem betrieben, um schließlich von dort aus in die höchsten Himmel aufzusteigen? Im Quran heißt es hierzu in der Sure 17, Vers 1: „Preis sei dem, der seinen Diener bei Nacht von der heiligen Moschee (wörtlich: Masdschid al-Haram) zur fernsten Moschee (wörtlich: Masdschid al-Aqsa), die wir ringsum gesegnet haben, reisen ließ, damit wir ihm etwas von unseren Zeichen zeigen. Er ist der, der alles hört und sieht.“
Der Prophet Muhammad vollzog die Himmelfahrt von Jerusalem aus
All das geschah in dieser Form, damit alle Menschen, vor allem wir Muslime, verstehen, dass Al-Quds (die Heilige), wie Jerusalem im Arabischen genannt wird, das irdische Tor zum Himmel ist. Die Zionisten hingegen zerstören diese Stadt und deren Heiligtümer, besudeln sie mit Hass, Rassismus und Ignoranz, und versuchen jegliche Öffnung himmlischer Tore zu verhindern.
Die Himmelfahrt ist ein zentrales Ereignis in der Biografie des Propheten und in der Geschichte des Islams. Auf dieser Reise erfuhr der Prophet vieles über das Jenseits – Paradies und Hölle – die Engel, andere Propheten, und insbesondere erreichte er hier die nächste Nähe zu Gott. Hierzu heißt es im edlen Quran: „Beim Stern, wenn er fällt! Euer Gefährte geht nicht irre und ist nicht einem Irrtum erlegen. Und er redet nicht aus eigener Neigung. Er ist nichts anderes als eine Offenbarung, die offenbart wird. Belehrt hat ihn einer, der starke Kräfte hat, der Macht besitzt. Er stand aufrecht da, am obersten Horizont. Dann kam er näher und stieg nach unten, sodass er (nur) zwei Bogenlängen entfernt war oder noch näher. Da offenbarte er seinem Diener, was er offenbarte. Sein Herz hat nicht gelogen, was er sah.“[9]
Auch die fünf täglichen Pflichtritualgebete wurden dem Propheten und der Gemeinschaft der Muslime von Gott auf dieser Himmelfahrt auferlegt. Immerhin eine der wichtigsten Säulen der islamischen Glaubenspraxis. Es ist kein Zufall, dass der Prophet über das Gebet in einer bekannten Überlieferung sagt: „Das Ritualgebet ist die Himmelfahrt des Gläubigen.“
Der Prophet kam in der Nacht an dem Ort an, wo heute die Al-Aqsa Moschee steht, und ging dann hinüber zu dem Ort, wo heute der Felsendom steht und stieg von dort in die Himmel auf.[10]
Wie könnte ein solcher Ort den Muslimen nicht heilig sein? Wie können heute Muslime auf die Idee kommen, dass Jerusalem für die Muslime unbedeutend wäre? Welche Beziehung haben diese Muslime zu ihrem Propheten? Kennen sie die Himmelfahrt nicht oder glauben sie nicht daran?
Moses, Jesus und Muhammad stünden heute auf der Seite der Palästinenser
Dieser Konflikt ist nicht kompliziert. Politik und Medien verkomplizieren ihn nur, damit wir Menschen ein Gefühl der Hilf- und Machtlosigkeit verspüren. Aber man muss kein Experte sein, um menschlich zu sein. Man muss nur zwischen Recht und Unrecht unterscheiden können. Und wenn man Unrecht erkannt hat, stellt man sich dagegen, unabhängig davon, von wem es ausgeht, und unabhängig davon, ob die Opfer zur eigenen Konfession gehören oder nicht. Das ist die einzig richtige islamische Position, die man heute mit Aufrichtigkeit und Würde vertreten kann. Man kann hierzu schlicht die folgende Frage stellen: Würden Moses, Jesus und Muhammad heute auf der Seite des besatzerischen Apartheidregimes Israel oder auf der Seite der Palästinenser stehen? Dass sie sich der Neutralität verpflichten würden, ist sicher nicht korrekt. Die Propheten sind nicht entsandt worden, um neutral zu sein.
Zudem muss man sich zwingend die folgende Frage stellen: Haben die Propheten Unterdrückte und Hilfsbedürftige jemals nach ihrem Glauben gefragt, bevor sie ihnen halfen und beistanden?
Gegen Israel zu sein ist kein Antisemitismus, es ist Menschlichkeit
Nein, es ist kein Antisemitismus, gegen Israel zu sein. Vielmehr ist es antisemitisch, rassistisch und inhuman, Besatzung, Vertreibung und Mord zu verteidigen oder gar zu rechtfertigen. Es ist antisemitisch, Israel zu unterstützen.
Und nochmals nein, die Israelis haben keinerlei Anrecht auf das Land Palästina und auf die Vertreibung der Palästinenser. Auch die Vertreibung, Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa legitimiert die seit über siebzig Jahren andauernden Verbrechen Israels nicht.
Die Palästinenser sind im Übrigen nicht selbst schuld, dass sie bisher keinen eigenen Staat gegründet haben. Schuld hieran sind vornehmlich die Politiker, die die Palästinenser von Anfang an im Stich ließen, diejenigen Araber und Muslime, die mit den Zionisten bereits vor der Gründung Israels Deals abschlossen [11] und die Palästinenser seit siebzig Jahren alleine lassen. Auch die Kriege, die sie gegen Israel führten, waren halbherzig geführt. Die Palästinenser sind faktisch seit siebzig Jahren auf sich alleine gestellt. Nur einige Wenige, darunter vornehmlich der Iran, stehen ihnen aufrichtig bei.
Seit rund siebzehn Jahren verfolge ich diesen Krieg der Zionisten gegen die Palästinenser. Und Jahr für Jahr verstärkt sich in mir die Hoffnung, dass das Unrecht in Palästina ein Ende finden wird, dass Israel lediglich ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Menschheit sein wird, selbst wenn meine Kinder sich noch in ihrer Schulzeit vor ihren Freunden und Mitschülern hinsetzen und ihnen vom andauernden Kampf um Palästina erzählen müssen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Dschenin#Milit%C3%A4roperation_2002 ↩︎
https://www.gpo.gov/fdsys/pkg/PLAW-104publ45/html/PLAW-104publ45.htm ↩︎
Unter Historikern, auch jüdischen, wird die These eines aus dem „Heiligen Land“ exilierten jüdischen Volkes zum Teil zurückgewiesen, siehe hierzu beispielsweise Shlomo Sand „Die Erfindung des jüdischen Volkes“, „Israel“, 2008. ↩︎
https://offenkundiges.de/israel-ein-judischer-staat-fur-homosexuelle/ ↩︎
Quran, 53:1–11 ↩︎
Zur Nachtreise und Himmelfahrt: Nachtreise und Himmelfahrt, Hussein Saidi, Verlag Eslamica, Bremen, 2017. ↩︎
Siehe: Ilan Pape, Die ethnische Säuberung Palästinas, Oxford 2006. ↩︎