Nicht jede Lüge wiegt gleich. Die eine lastet schwerer auf der Seele, die andere leichter. Die eine macht einem das Leben vermeintlich leichter, die andere schwerer. In der Geschichte der Menschheit sind Fälle schwerer Lügen überliefert, die nicht mehr umkehrbar sind, da die Lügner verstorben sind. Und sie lehren uns vor allem eins: Je glaubwürdiger wir bei unseren Mitmenschen sind, desto schwerer wird eine Lüge wiegen, die wir ihnen gegenüber äußern.
Imam Ali (a.) erfuhr, nachdem der heilige Prophet Muhammad (s.) zu seinem Schöpfer zurückgekehrt war, bekanntermaßen sehr viel Opposition in seiner Rolle als spiritueller, geistiger und politischer Führer der jungen muslimischen Gemeinschaft. Insbesondere als ihm mit über 20-jähriger Verspätung das Kalifat aufgedrängt wurde, schlug die teils versteckte Gegnerschaft einiger in offene Feindschaft und Krieg um. Die Mächte der Unterdrückung, des rassistischen Stammesdenken und der Liebe zum Weltlichen wussten, dass sie unter einem von Ali ibn Abi Talib geführten Staat ihre Interessen nicht durchsetzen konnten. Muawiya, selbst Sohn von einem der größten Widersacher des Propheten, besetzte während Imam Alis Kalifat die reiche Provinz Scham (in etwa das heutige Syrien, Libanon und Palästina) und bekämpfte Imam Ali (a.) mit allen verfügbaren Mitteln.
Die Gefährten des Propheten
Zu dieser Zeit lebten noch einige Gefährten des Propheten Muhammad (s.), die aufgrund ihrer Nähe, die sie zum Gesandten Gottes erleben durften, einen sehr hohen Ruf in der Bevölkerung des islamischen Herrschaftsgebiets genossen. Es gab zwar viele Geschichtenerzähler im Reich und diese konnten ausgeschmückte Fabeln sowie schöne Poesien über Muhammad (s.) vortragen. Einige einfach gestrickte Menschen konnten sie damit erreichen und auch in eingeschränktem Maße beeinflussen – vergleichbar mit heutigen Influencern, die mit Memes, Bildern und Videos in sozialen Medien arbeiten. Aber ein echter Prophetengefährte überlieferte Erzählungen von Muhammad (s.) aus erster Hand und so hingen die Menschen, wenn diese wenigen verbliebenen Gefährten sprachen, ihnen an den Lippen, um ein wenig vom Lichte des heiligsten aller Menschen zu erhaschen.
Verglichen mit der heutigen Zeit hatten die Aussagen von Prophetengefährten für die Menschen ihrer Zeit den Stellenwert von Aussagen der höchsten islamischen Gelehrten. Ja, heutige islamische Gelehrte ziehen doch selbst einen wichtigen Teil ihres Wissens über den Islam aus den Überlieferungen, die eben jene Gefährten tradierten. Freilich gab und gibt es Unterschiede in der Bewertung der Glaubwürdigkeit der Überlieferer, aber der Großteil der damaligen Bevölkerung vertraute diesen Menschen, waren sie doch der Wahrheit zumindest physisch so nahe gekommen wie sonst niemand im Reiche.
Niemand, außer ein besonderer Prophetengefährte, den Muhammad (s.) als das Tor zur Wahrheit bezeichnete, des Gesandten Wahl-Bruder, der eine Stellung ihm gegenüber hatte, wie Aaron zu Moses, nämlich Ali ibn Abi Talib (a.). Viele Menschen wussten von der Nähe Imam Alis zum Propheten. Sie hatten gehört, dass er der Erste war, der den Islam angenommen hatte, und seine Heldentaten bei mehreren im Quran erwähnten Schlachten von Badr über Chaybar bis Hunayn fanden nicht nur bei den Schiiten ihrer Zeit Verbreitung, auch nachdem Imam Ali ermordet worden war. Und genau das war für den Unterdrücker seiner Zeit, der von der Provinz Scham aus die Macht über das junge Islamische Reich für sich und seine Dynastie manifestieren wollte, ein gewaltiges Problem.
Das Gewicht der Lüge eines Glaubwürdigen
Was sollte ein Tyrann in jener Zeit tun, um seinen Gegenspieler in jener muslimischen Gesellschaft zu diskreditieren? Geschichtenerzähler engagieren? Nicht besonders effektiv und schon inflationär verwendet. Wohlgesonnene Kanzelprediger einsetzen, die Imam Ali zur Freitagsansprache verfluchen? Wie wir wissen, auch nach dessen Ermordung gang und gäbe. Mit ein wenig Silber hier und ein paar Unzen Gold da betrieb der Tyrann ohnehin einen plumpen Propagandaapparat. Und doch hatten diese Maßnahmen nicht die durchschlagende Wirkung, die eine Aussage aus dem Munde eines Prophetengefährten hatte. Was er brauchte, waren Lügen von glaubwürdigen Personen.
Ein Prophetengefährte war Samura ibn Dschundab. Er hatte den Propheten persönlich gekannt und ihm schon als junger Bursche bei Gefechten zur Seite gestanden. Muawiya kontaktierte ihn und verlangte: „Ich möchte, dass du Ali ibn Abi Talib in direkten Zusammenhang bringst mit dem bekannten Quranvers: ‚Unter den Menschen gibt es manch einen, dessen Worte über das diesseitige Leben dir gefallen, und der Allah zum Zeugen nimmt für das, was in seinem Herzen ist, dabei ist er der hartnäckigste Widersacher.‘ Komm, sag, dass dieser Vers im Quran in Bezug auf Ali ibn Abi Talib offenbart wurde. Sag, dass in diesem Vers Ali gemeint ist.“[1]
Zusätzlich verlangte er, dass Samura ibn Dschundab den Vers „Unter den Menschen gibt es manchen, der sich selbst (seine Seele) im Trachten nach Allahs Zufriedenheit opfert“[2] in Bezug zu Ibn Muldscham, dem Mörder Alis (a.), setzt.
Samura ibn Dschundab weigerte sich, auch dann noch, als Muawiya ihm 50.000 Dirham bot. Das war zu der Zeit ein gewaltiges Vermögen, das etwa 15 kg Gold entsprach.[3] Jeder normale Mensch hätte seinerzeit damit ausgesorgt. Wir (und auch Imam Chamenei, der diese Geschichte wieder bekannt gemacht hat) wissen nicht, ob sein Gewissen oder seine Absicht, den Preis in die Höhe zu treiben, ihn dazu brachte, sich zu weigern, jedenfalls verdoppelte der Herrscher sein Angebot auf 100.000 Dirham. Nach einigen weiteren Erhöhungen auf schließlich 500.000 Dirham rief Muawiya: „Begreift dieser Dummkopf denn nicht, wie viel fünfhunderttausend Dirham sind?“, und ließ säckeweise vom damals gängigen Silbergeld herbeischleppen, bis sie übereinandergestapelt bis zur Zimmerdecke reichten. Es war ein gewaltiges Vermögen und sicher ein eindrucksvoller Anblick.
Und so fragte er Samura, ob er nun einverstanden sei. Gott weiß, was in dem Moment dem Mann durch den Kopf ging. Möglicherweise redete er es sich ein, er könne mit so viel Geld vielen armen Leuten helfen und Sklaven freikaufen. Wir wissen es nicht. Jedenfalls knickte seine Seele ein und er akzeptierte das teuflische Angebot.
Diese Einwilligung war eine Katastrophe für die Geschichte des Islam, sie lenkte etliche Menschen von der Wahrheit ab, förderte den Hass auf die Familie des Propheten und war somit auch mitverantwortlich für die größte Tragödie des Islam, die sich einige Jahre später in Karbala ereignete. Doch am katastrophalsten war sie für Samura ibn Dschundab selbst, denn er hatte für ein wenig vermeintlichen Genuss in seinem kurzen Leben seiner Seele einen Schaden angetan, den nur Gott kennt.
Und was ist mit uns? Zu den größten Sünden gehört es im Islam, seine eigenen Sünden als gering zu erachten. Auf keinen Fall dürfen wir auf den Trugschluss hereinfallen, dass, was für ibn Dschundab galt, nicht auch für uns gelte. Wir sind zwar keine Prophetengefährten, wir werden in unserer Gesellschaft aber dennoch als seine Anhängerschaft wahrgenommen. Als Muslime werden viele von uns in der Regel schon allein aufgrund unserer Namen und irrtümlicherweise auch aufgrund von Haut- oder Haarfarbe wahrgenommen. Die Menschen in unserer Umgebung, von denen einige noch ahnungsloser sind als die Bevölkerung des jungen islamischen Reichs zuzeiten von Ali (a.), sehen in uns die Vertreter des Propheten. Ist es nicht auch eine Verleumdung, wenn wir uns eine kleine Lüge hier erlauben und uns einem unbedachten Reden da hingeben?
Und was ist unser Silber und Gold, mit dem man uns kaufen kann? Ist es der Wunsch nach Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft oder die Furcht vor ihrer Kritik, die uns dazu verführt, falsche Dinge über unsere Religion zu behaupten? Behaupten wir doch einfach im Widerspruch zum Quran, dass praktizierte Homosexualität keine große Sünde sei – die Mehrheitsgesellschaft wird uns dafür feiern. Und äußern wir uns zur Lage der Palästinenser am besten erst gar nicht und gehen wir erst recht nicht mit unseren Gemeindemitgliedern zum Qudstag. Das könnte unserem Gemeindeverein sonst womöglich Ärger mit den Behörden und den Tadel der Medien einbrocken, also lassen wir das oder verteidigen wir sogar das Existenzrecht Israels, dem letzten rassistischen Apartheidregime der Erde.
Dabei nützt uns das Abweichen oder, im schlimmsten Fall, der Abfall von unserer Religion aus Furcht vor dem Tadel schon in dieser Welt nicht im Geringsten, im Gegenteil: „O ihr, die ihr glaubt, wenn einer von euch von seiner Religion abfällt, so wird Gott (anstelle der Abgefallenen) Leute bringen, die Er liebt und die Ihn lieben, die den Gläubigen gegenüber sich umgänglich zeigen, den Ungläubigen gegenüber aber mit Kraft auftreten, die sich auf dem Weg Gottes einsetzen und den Tadel des Tadelnden nicht fürchten. Das ist die Huld Gottes; Er lässt sie zukommen, wem Er will. Gott umfasst und weiß alles.“ (Heiliger Quran, 5:54)
Je höher unsere Verantwortung, Glaubwürdigkeit und Reichweite sowie der Einfluss auf unsere Mitmenschen, desto größer der Schaden, den wir für unsere eigene Seele verursachen können. Und desto größer aber auch die Möglichkeit, unseren Gottesdienst in Form des Dienstes an den Mitmenschen in Dankbarkeit zu erfüllen und dabei an der Befreiung der Menschheit durch den Imam der Zeit mitzuwirken und irgendwann mit einer beruhigten Seele zu unseren Schöpfer zurückkehren zu dürfen.
Vgl. S. 163 in „Der 250-jährige Mensch“ von Imam Chamenei mit Bezug auf Heiliger Quran 2:204. ↩︎
Ebda. S. 170 mit Bezug auf Heiliger Quran 2:207. ↩︎
Entpricht bei heutigem Goldpreis etwa 640.000 Euro. ↩︎