Einen Termin für einen Neuanfang zu haben, ist offenkundig ein menschliches Bedürfnis. Da der Mensch, anders als ein Tier, seine Vervollkommnung nicht in der Befriedigung seiner niederen Triebe sieht, ist sein Weg, sein Streben nach Glück, steiniger, verzweigter und länger. Allein eine Antwort auf die Frage nach dem richtigen Weg zu haben, genügt nicht, den Weg zu beschreiten ist die eigentliche Herausforderung. Als Hilfestellung stellt sich der Mensch immer wieder Schilder auf, die ihn daran erinnern, dass es Zeit ist, sich wieder seines Weges zu besinnen. Für viele gilt die Neujahrsnacht als die Nacht der guten Vorsätze. Von da an werde alles anders. Wenn nicht alles, dann zumindest etwas, was zu meinem Weg gehört.
Auch der Islam stellt den Muslimen ein solches Hinweisschild auf, an dem sie jedes Jahr vorbeikommen. Es ist die Laylatul Qadr: die Nacht des Schicksals. Diese Gelegenheit gleicht einem überdimensionalen Hinweisschild, das den Muslim daran erinnert, sich auf seine eigentliche Bestimmung zu konzentrieren. Wenn jeder diese Nacht ernst nimmt, kann der Mensch endlich lernen, Mensch zu sein.
Eine Nacht zum Gute-Vorsätze-Fassen haben andere auch. Doch der Islam gibt den Muslimen noch etwas in die Hand, das allen anderen fehlt: das geheime Mittel, wie man diese Vorsätze auch umsetzen kann. Es mag Uneinigkeit darüber herrschen, wann genau die Laylatul Qadr ist. Aber alle Muslime sind sich einig, dass sie im letzten Drittel des Monats Ramadan zu finden ist. Wenn es nur darum ginge, dass sich diese heiligste Nacht im heiligsten Monat befinden muss, hätte sie auch an den Anfang gesetzt werden können. Doch der Prophet des Islam ließ sie ganz explizit am Ende suchen: in den letzten fünf ungeraden Nächten. In jedem Fall gehen ihr einige Fastentage voraus. Dass das Fasten disziplinieren soll, steht außer Frage, und eine seiner wichtigsten Wirkungen ist das erfolgreiche Bekämpfen seines im Wege stehenden und störenden Ichs. Eben jenes Ich, das sich auch bei der Umsetzung guter Vorsätze in den Weg stellt.
So gesehen ist die Laylatul Qadr nicht nur eine isoliert zu betrachtende Gelegenheit, intensiv zu beten. In ihr findet das Fasten und der ganze Monat Ramadan seinen Höhepunkt. Es wirkt beinahe so, als sei der ganze restliche Monat nur der An- und Abstieg und die Laylatul Qadr der eigentliche Gipfel. Ihren Genuss bekommt zu spüren, wer vorher intensiv gefastet hat – mit all seinen Sinnen.
Imam Sadiq (a.) sagte: „Der beste alle Monate ist der Monat von Gott – der Monat Ramadan – und das Herz von Ramadan ist Laylatul Qadr.“ (Bihar-ul-Anwar)
Kann man denn ohne Herz leben?
Die Schlussfolgerung dieser Wertschätzung der heiligen Nacht ist offenkundig: Jeder Tag und jede Nacht des heiligen Monats wird in Vorbereitung auf die heiligste aller Nächte verbracht. In dieser werden dann die Gebete, Duas und Munadschat intensiviert.
„Wer während der Nacht der Bestimmung aus Glaube und mit Bewusstsein wach bleibt, dem vergibt Gott alle Sünden, die er begangen hat.“ (Prophet Muhammad (s.))
Zu den empfohlenen Taten gehören das Verrichten der rituellen Vollkörperreinigung (Ghusl), das Beten und das Bitten um Vergebung. Zu den speziellen Bittgebeten für diese Nacht zählen das Munadschat von Imam Ali sowie das Dua Dschauschan Kabir, dessen Rezitation gut eineinhalb Stunden dauern kann. Eine besondere Atmosphäre wird dadurch geschaffen, dass diese Bittgebete nicht alleine, sondern in großen Gemeinschaften rezitiert werden – wiederum eine Gnade, um die ein Außenstehender die Muslime beneiden muss. Die Botschaft kann für das ganze Jahr prägen: Muslim ist man nicht allein, sondern eingebettet in einer Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, für die man Verantwortung trägt, mit der man sich verbunden fühlt, der man den Rücken stärkt, wenn sie schwächelt. Eine Gemeinschaft, die man unterstützt, wenn sie angegriffen wird, an deren Schicksal man gebunden ist. Üblicherweise nutzt man die Laylatul Qadr dazu, in erster Linie für eben diese islamische Umma und ihren Imam zu beten, ehe man selbst seine persönlichen Wünsche und Bitten äußert. Selbst im Gebet ist das Selbst unterzuordnen.
Noch ein Umstand lässt uns in diesen Tagen an die islamische Gemeinschaft denken und an all diejenigen, durch die der Islam zu uns gekommen ist: Ali ibn Abi Talib (a.) wurde in der Nacht zum 19. Ramadan mit einem vergifteten Schwert am Kopf getroffen, während er sich im rituellen Gebet befand. Er verließ die Welt am 21. Ramadan. Kein Mann hat Prophet Muhammad (s.) so unterstützt wie Imam Ali (a.). Das Überleben des Islam wäre ohne ihn nicht denkbar gewesen. Er legte sich in das Bett des Propheten, um an seiner Stelle ermordet zu werden. Er kämpfte halb verhungert und ausgemergelt bei Badr und holte dort für die Muslime den Sieg. Er rettete dem Propheten bei Uhud das Leben und verteidigte ihn mit einer Handvoll in Hunain gegen eine Überzahl. Er bezwang die Helden der Araber, die als gefürchtete Kämpfer den Feinden des Islams mit ihrer zur Schau gestellten Kraft Mut machten, bis er sie niederschlug wie David den Goliath. Niemand außer ihm ging mit dem Propheten in die Kaaba, seinen Geburtsort, um sie von den Götzen zu befreien.
Nach dem Propheten begann für ihn eine Zeit der Unterdrückung, die er geduldig ertrug, um die junge islamische Gemeinschaft nicht zu schwächen. Er arbeitete hart, hob Brunnen aus und verschenkte sie an Familien, gab jedermann Rat, der ihn fragte und erzählte vom Propheten, was jeder erfahren musste, denn niemand kannte ihn so wie er. Als er Kalif wurde, lebte er wie die Ärmsten, zog nachts umher, um Waisenkindern Almosen zu geben, redete den Leuten ins Gewissen, ermahnte sie, lehrte sie, ermutigte sie für den Islam aufzustehen, sich zu erziehen, zu arbeiten, zu leiden, zu kämpfen, Tag für Tag, Woche für Woche. Er führte eine Gerechtigkeit ein, die ihm keine Sonderstellung gab, brach mit den falschen Traditionen, der Korruption und Bevorzugung von Freunden und Familienangehörigen, sprach Urteile, die die Reichen so erschütterten, dass sie gegen ihn zu Felde zogen. Er versteckte sich nicht, bezwang einen Feind nach dem anderen. Die Muslime dankten es ihm, in dem sie nicht oder nur widerwillig auf ihn hörten, dadurch zu seiner Absetzung beitrugen und später zuließen, dass er noch weitere siebzig Jahre lang von der Kanzel aus verflucht, seine Familie und seine Gefährten ausgegrenzt und ermordet wurden.
Die Laylatul Qadr ist eine Gelegenheit, sich klarzumachen, welche Anstrengungen und welches Leid er und seine Anhänger auf sich genommen haben, damit der Islam letztlich zu uns kam. Dass wir dies nicht in ausreichendem Maße zu schätzen wissen können, steht außer Frage. Aber wie sehr versuchen wir es?
Muslime, die im Frieden, mit ausreichend Nahrung, sauberem Wasser und guter medizinischer Versorgung leben, tragen eine islamische Verantwortung. Sie müssen sich bewusst machen, dass andere Muslime dafür, dass sie unbeugsam an den Werten des Islams festhalten, unterdrückt und verfolgt werden. Diese Werte gehören zum Weg der Vervollkommnung des Muslims, zu seinem Streben nach Glückseligkeit.