Gilt das Völkerrecht auch für die USA und Israel?

Seit dem direkten Eingreifen der russischen Streitkräfte in der Ukraine haben die USA und ihre willigen Helfer plötzlich wieder das Völkerrecht entdeckt. Es ist bedauerlich, welche Vergesslichkeit in der Öffentlichkeit hierzulande herrscht. Vor dem völkerrechtswidrigen US-Angriffskrieg gegen den Irak 2003 machte sich die Bush-Administration noch öffentlich über das Völkerrecht lustig. Vergessen scheinen die damaligen öffentlichen Äußerungen von George W. Bush, dass die USA in Zukunft nicht nur Präventiv-, sondern auch „Präemptivkriege“ führen würden, das heißt sich das Recht herauszunehmen, jedes Land, das mit den USA zukünftig ökonomisch oder militärisch gleichziehen kann oder will, bereits im Vorfeld auszuschalten. Die „Qualitätsmedien“ erinnern sich jedenfalls nicht daran. Die völkerrechtswidrigen Angriffskriege der USA kosteten in den letzten Jahrzehnten Millionen Menschen das Leben, ohne dass jemand nach Sanktionen rief. Prof. Rainer Mausfeld von der Uni Kiel schätzt die Zahl der Toten bei diesen Angriffskriegen auf 25–30 Millionen, von all dem Leid der Verletzten, der Zerstörung von Existenzen, Familien und Folgeschäden ganz zu schweigen. Es ist bereits hinlänglich bekannt, wie bei all den Kriegen – von Vietnam (inszenierter Tonkin-Zwischenfall) bis Irak, Libyen und Syrien – bei der Suche nach Kriegsgründen gelogen wurde, dass sich die Balken biegen.

In den letzten Tagen wurde bekannt, dass die Biden-Administration nach Möglichkeiten suche, den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag einzuschalten, um den russischen Präsidenten vor Gericht zu stellen. Wolfgang Schomburg, ehemaliger Richter am IStGH, bringt sogar eine Entführung Putins ins Spiel. Pikant dabei ist, dass die USA den IStGH bisher überhaupt nicht anerkennen. Der American Service-Members’ Protection Act wurde im Jahr 2002 rechtskräftig, der den US-Präsidenten implizit dazu ermächtigt, eine militärische „Befreiung“ von US-Staatsbürgern anzuordnen, die sich in Den Haag vor dem IStGH verantworten müssten. US-Behörden wird eine Zusammenarbeit mit dem Gericht ausdrücklich untersagt. Die USA drohen dem IStGH somit sogar offen mit Gewalt, sollten sich dort US-Bürger verantworten müssen. Ex-Außenminister Pompeo machte vor der Presse am 15. März 2019 deutlich, dass dies auch für Israel gelten würde. Sämtliche Mitarbeiter des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), die sich an Ermittlungen gegen Israel beteiligten, würden sanktioniert. Mit ihren Handlungen demonstrieren sie auch, dass das Völkerrecht nach ihren Vorstellungen zwar für andere, jedoch nicht für die USA und Israel verbindlich sind.

Doppelte Standards

Die Situation in Palästina ist seit Beginn des Monats Ramadan wieder einmal extrem angespannt. Israelische Einsatzkräfte provozierten schwere Zusammenstöße auf dem Gelände der Al-Aksa-Moschee in der Altstadt von Jerusalem. Die Polizei griff die nach Tausenden zählende Menge, die sich zum Morgengebet versammelt hatte, mit der Begründung an, dass Steine auf den tiefer liegenden Platz vor der Klagemauer geworfen worden seien. Im weiteren Verlauf des Tages stürmten Polizisten auch in die Moschee.

Dass schwere Menschenrechtsverletzungen gegen die palästinensische Bevölkerung für Israel folgenlos bleiben, ist inzwischen eine Binsenweisheit und kümmert hierzulande eigentlich deutsche Medien und Politiker schon längst nicht mehr. Während in Deutschland die sogenannte „Annexion der Krim“ 2014 mit einem Aufschrei der Empörung zur Kenntnis genommen wurde und Sanktionen gegen Russland verhängt wurden, stoßen die Pläne der israelischen Regierung, immer größere Teile Ostjerusalems und des Westjordanlandes zu annektieren, nicht nur auf keinerlei Sanktionsforderungen, sondern haben nicht einmal die Aussetzung (zum Teil kostenloser!) deutscher Waffenlieferungen zur Folge. Dabei ist die Annexion besetzter Gebiete ein eindeutiger Verstoß gegen Artikel 2(4) der UN-Charta sowie gegen zwingende Normen des Völkerrechts. Dies erklärte vor Kurzem sogar Amnesty International. So äußerte sich Ruth Jüttner, Leiterin des Teams Regionen und Themen bei Amnesty International in Deutschland, wie folgt: „Die Pläne der israelischen Regierung, Teile der rechtswidrigen israelischen Siedlungen und das Jordantal im besetzten Westjordanland zu annektieren, sind Ausdruck einer zynischen Politik, die die Regeln des Völkerrechts ignoriert.“[1] Sie forderte die sogenannte „Internationale Gemeinschaft“ auf, zu handeln: „Die internationale Gemeinschaft muss die Einhaltung des Völkerrechts sicherstellen und deutlich machen, dass eine Annexion von Teilen des Westjordanlandes durch die israelische Regierung null und nichtig ist. Ein solcher Schritt ändert nichts am rechtlichen Status des besetzten Gebietes.“[2] Als Reaktion auf die Amnesty-Kritik kam aus Israel wieder einmal der Antisemitismus-Vorwurf, was ebenfalls bezeichnend ist.

Palästina in einer veränderten Weltsituation – wie kann es nun weitergehen?

Jedem politischen Beobachter dürfte klar sein, dass der seit dem Putsch 2014 in der Ukraine tobende Krieg, der durch das direkte Eingreifen russischer Truppen eine neue Eskalationsstufe erreicht hat, eine tiefgehende politische und wohl auch ökonomische Zäsur für Deutschland darstellt. Alle Hemmungen in der deutschen Politik scheinen nun vollends zu fallen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren zum Beispiel Waffenlieferungen in Krisengebiete noch formal tabu (obwohl sie Israel dennoch und zum Teil kostenlos erhielt). In den von transatlantischen Netzwerken in Deutschland durchsetzten Medien war bereits vor der Eskalation des Ukraine-Konfliktes jede Kritik an der NATO und Israel tabu. In Zukunft wird sich die Anlehnung an die USA und die Abhängigkeit Deutschlands vom großen Bruder zweifellos in jeder Hinsicht verstärken. Weniger denn je ist eine souveräne deutsche Außenpolitik zu erwarten. Die politische Instrumentalisierung der deutschen Vergangenheit und die Ausnutzung deutscher Schuldgefühle feiert Hochkonjunktur. Auf der Grundlage der historisch bedingten Schuldgefühle werden neue Schuldgefühle aufgebaut und ebenfalls politisch instrumentalisiert. Wer auf dieser Klaviatur (wie manche ukrainische Politiker und Diplomaten) zu spielen versteht, kann die deutschen Politiker und Medien problemlos vor sich hertreiben. Eine ganze Riege selbsternannter Gesinnungswächter in den „Qualitätsmedien“ wacht zudem darüber, dass die Angelegenheiten in die entsprechende US- und NATO-Richtung gelenkt werden. Das alles verheißt zumindest für das Anliegen der Palästinenser in Deutschland nichts Gutes. Die deutsche Politik wird sich weniger denn je für ihre Rechte interessieren und stattdessen die Kooperation mit dem israelischen Apartheidssystem weiter forcieren. Jedoch steht schon heute fest, dass Deutschland – ganz gleich wie der Krieg in der Ukraine ausgeht – als der große ökonomische Verlierer dastehen wird. Dabei bleibt noch abzuwarten, wie die deutsche Bevölkerung auf die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation reagiert. Weiterhin muss man immer darauf verweisen, dass die Geschichte nicht zu Ende ist, vor unseren Augen beginnen sich die globalen Kräfteverhältnisse zu verändern. Das Ende des Wallstreet-Dollar-Systems rückt in greifbare Nähe. Die chinesische Regierung scheint (mit Russland und anderen Staaten) jedenfalls nach einer Verlautbarung von vorgestern entschlossen, der hegemonialen Stellung der USA im internationalen Finanzsystem mit dem Ende der Dollardominanz ein Ende zu bereiten. In einer veränderten Weltsituation gibt es jedenfalls andere Perspektiven für ein freies Palästina. Andererseits stürzt die Apartheidspolitik Israel zukünftig so oder so in ein unlösbares Dilemma: Je mehr Gebiete man völkerrechtswidrig annektiert, desto größer wird der arabische Bevölkerungsanteil in Israel. Früher oder später muss entweder die Apartheid aufgegeben oder eine offene Diktatur errichtet werden.


  1. Jüttner, zitiert nach: https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/israel-und-besetzte-gebiete-israel-annexionsplaene-verstossen-gegen-das-0 ↩︎

  2. Ebenda. ↩︎