Predigten in YouTube, theologische Laiendiskussionen in Facebook, Gemeinschaftsorganisationen in Gruppenchats – das alles kennt die Umma seit Jahren. Neu ist die Liveübertragung der Veranstaltungen und die damit fortschreitende Virtualisierung der Gemeinschaften.

Seitdem Facebook im letzten Jahr in Deutschland die Live-Videos freigeschaltet hat, nutzen immer mehr Gemeinschaften die Möglichkeit, ihre Veranstaltungen live zu übertragen. Ein Smartphone, ein externes Mikrofon, ein Stativ und WLAN – mehr braucht es dazu nicht. Zwar ist die Anzahl der Live-Zuschauer bisher gering, selten mehr als zwanzig, von denen die meisten wenige Minuten schauen, aber wegen des geringen Aufwandes setzt sich das Live-Streaming durch. Es wird sogar darüber nachgedacht, Live-Videos in Gemeinschaftsräumen an die Leinwand zu werfen und so eine Veranstaltung auf mehrere Gemeinschaften zu erweitern. Diese Entwicklung birgt Chancen und Risiken.

Ein technisches Ärgernis sind die häufigen Verbindungsabbrüche von Live-Videos, sowohl in Facebook als auch in YouTube. Stotternde und erstarrte Redner werden aber in einigen Jahren vom Tisch sein.

Die Gleichzeitigkeit von Live-Vorträgen eröffnet drei Chancen: Interaktion, weltweite Verfügbarkeit eines Redners und Gemeinschaftsbildung, jeweils ohne physische Anwesenheit. 

Die virtuelle Interaktion ist bisher begrenzt. In Diskussionsrunden könnten zwar dem Redner Livekommentare vorgelesen werden, wirklich interagieren kann der Fragende jedoch nicht. Der dafür notwendige technische Aufwand wäre ungleich höher. Abgesehen davon sind die Diskussionszeiten beschränkt, sofern vorhanden. Und kein Gemeinschaftsmitglied im physischen Publikum würde Verständnis dafür aufbringen, dass es seine Frage nicht stellen kann, weil ein Zuhörer aus dem virtuellen Publikum ihm die Zeit stiehlt.

Die weltweite Verfügbarkeit eines Redners könnte Gemeinschaften zugutekommen, die keinen Redner stellen oder einladen können. Sie würden sich den Redner mit einer anderen Gemeinschaft teilen, freilich nur an der Leinwand. Allerdings folgt das Publikum einem virtuellen Redner nicht so konzentriert wie einem physisch anwesenden. Die damit einhergehende Unruhe belastet die Veranstaltung. Ein virtueller Redner kann beim heutigen Stand der Technik einen physischen nicht ersetzen. Er kann nicht auf das Publikum eingehen, die Reaktionen der Zuhörer erreichen ihn nicht. Es gibt bessere Lösungen: öffentlich einsehbare Listen von Rednern, mit Namen und Kontaktdaten, sowie die Ausbildung deutschsprachiger Gelehrter.

Die virtuelle Gemeinschaftsbildung wird durch Live-Predigten unterstützt – wirklich? Diesem Gedanken unterliegt ein Missverständnis über das Wesen einer Gemeinschaft und die Funktion einer Rede. Eine Gemeinschaft basiert auf Beziehungen von Menschen untereinander und in Gruppen, sie formt Individuen zu einer übergeordneten Einheit. Wesentliche Elemente dieser Gemeinschaftsbildung sind Geschwisterlichkeit, Vertrauen, gemeinsame Erfahrungen, persönlicher Austausch, Rat und Tat. Das ist ausschließlich unter Einsatz sämtlicher Kommunikationsebenen möglich: verbal, visuell, mit Mimik und Gestik, Gruppendynamik. Auch die Führungsstruktur einer Gemeinschaft ist ohne eine gesunde zwischenmenschliche Basis nicht vorstellbar. Eine Gemeinschaft besteht nicht aus Leuten, die sich wöchentlich zu einer Rede treffen und danach wieder verstreuen. Die Rede ist das Rahmenprogramm, der Anstoß und formale Anlass, nicht das Herzblut einer Gemeinschaft.

Wer nicht begriffen hat, was eine Gemeinschaft ausmacht, verwechselt ein Live-Video mit dem Gemeinschaftsleben – und besucht in letzter Konsequenz nicht mehr die Moschee. Kinder, deren Eltern in einer Fernbeziehung leben, sind Scheidungskindern ähnlicher als Kinder einer zusammenlebenden Ehe. Gleiches gilt für die Mitglieder einer Gemeinschaft. Ohne Gemeinschaft keine Vertrauenspersonen und Vorbilder, und ohne die keine Stabilität, keine Entwicklung, kein Fortschritt.

Was wünschen sich unsere Gemeinschaften?

Die Aschura-AG (NRW) befragt zurzeit Mitglieder verschiedener Gemeinschaften nach ihren Wünschen an die virtuelle Umma. Die Geschwister haben mir freundlicherweise ein Zwischenergebnis zur Verfügung gestellt. Es basiert auf den Antworten von 75 befragten deutschsprachigen Geschwistern, mehrheitlich unter 40 Jahren. Von den gestellten Fragen sind für unsere Betrachtung drei relevant:

  1. Frage: Welche Wege bevorzugen Sie, sich islamisches Wissen anzueignen?
    Antwortmöglichkeiten: Moschee, Fernsehen, Internet – bitte Prozente verteilen.
    → Ergebnis: Moschee 46,7 %, Fernsehen 7,7 %, Internet 43,6 %.
  2. Frage: Wie sehr würden Sie sich für das Empfangen islamischer Vorträge live auf den mobilen Geräten interessieren – mit der Möglichkeit, dem Redner Fragen zu stellen?
    Antwortmöglichkeiten: riesig, mittelmäßig, kein Interesse.
    → Ergebnis: riesig 46,7 %, mittelmäßig 49,3 %, kein Interesse 3 %.
  3. Frage: Wie sehr würden Sie sich für das Live-Empfangen islamischer Vorträge direkt in der Moschee in ihrer Nähe interessieren – mit der Möglichkeit, dem Redner Fragen zu stellen?
    Antwortmöglichkeiten: riesig, mittelmäßig, kein Interesse.
    → Ergebnis: riesig 60 %, mittelmäßig 31 %, kein Interesse 9 %.

Umfragen dieser Art sind mit Vorsicht zu genießen. Zum einen handelt es sich um ein Zwischenergebnis und zum anderen folgt aus der anonymen Antwort „Ich würde mich riesig über islamische Live-Vorträge auf meinem Handy freuen“ nicht, dass der Antwortende auch nur einen einzigen Live-Vortrag tatsächlich auf seinem Handy verfolgen würde.

Unter Vorbehalt dieses Hinweises ziehe ich aus der Umfrage zwei Schlüsse:

  1. Quellen im Internet konkurrieren um die Weitergabe islamischen Wissens mit der Moschee und der Gemeinschaft. Das ist kein Problem für erwachsene und gefestigte Muslime. Für Jugendliche lauern hier aber Gefahren. Videos von Salafisten, die predigen, Schiiten würden im Ritualgebet regelmäßig die Gefährten des Propheten (s.) verfluchen, oder Videos von Turban tragenden Schiiten, die Allah (swt.) unterstellen, die Schöpfung auf dem Fluch auf Umar aufgebaut zu haben, leiten keinen gefestigten Muslim in die Irre – wackelige Jugendliche dagegen könnten abgleiten. Hier muss die Gemeinschaft ansetzen.
  2. Die Antwort auf die dritte Frage offenbart das verbreitete Missverständnis vom Wesen einer Gemeinschaft. Hier haben wir noch Aufklärungsarbeit zu leisten – idealerweise durch lebendige und integrierende Gemeinschaften.

Live-Videos sind eine geeignete Notlösung für Mitglieder, die während ihres Auslandsaufenthaltes oder während sie das Krankenbett hüten, ihre wöchentliche Gemeinschaftsveranstaltung nicht missen möchten. Eine Alternative zum physischen Redner und zur gelebten Gemeinschaft sind sie nicht.