Seht in Europa den Fortschritt
Dieser kam mit der Aufklärung
Sie ließen den Pastor in der Kirche
Als er zu einer Quelle des Schadens wurde
Seht sie und urteilt selbst
Sogar ihre Luft unterscheidet sich von eurer
Diese Menschen sind frei und verstehen die Freiheit
Lernt von ihnen, nehmt etwas von ihnen
Die Rolle des Turbans (der Geistlichen) ist es, religionsrechtliche Fragen zu beantworten
Hättet ihr euch daran gehalten, wäret ihr fortgeschritten
Vermischt nicht die Religion mit anderem, wohin seid ihr gekommen?

Handelt es sich bei obigem Text um westliche Propaganda gegen die Islamische Republik Iran? Das übliche Säkularismus-Gerede? Bestimmt ein US-amerikanischer Musiktext!

Leider nicht. Tatsächlich stammt dieser Text, der vor etwa zwei Jahren in Essen vorgetragen wurde, von einem schiitischen Trauersänger [1], hier sinngemäß ins Deutsche übersetzt. Wie passt dieser Säkularismus zu Imam Hussein (a.) und welche Botschaft müssen die Madschalis (Trauerzeremonien) tatsächlich verbreiten?

Warum Trauerveranstaltungen?

Dem Leser mag sich die Frage stellen, weshalb wir als schiitische Muslime solch einen besonderen Wert auf Trauerveranstaltungen, besonders zu Aschura, legen. Zum einen ist in unseren authentischen Überlieferungen wiederzufinden, dass es die Tradition der Imame und Propheten war, um Verstorbene zu trauern. Wie kann man dann nicht um den Märtyrertod der besten Menschen, die auf dieser Erde gingen, trauern? Die Trauer um die Rechtschaffenen stellt einen Pfeiler des Gedenkens an die Imame und ihre Lehren dar. Die Trauer um die Verwandtschaft des Propheten (s.) belebt durch ihre Spiritualität den Weg der Ahlulbayt immer wieder aufs Neue. Wie viele gibt es, die wir sonst nicht in unseren Moscheen und Gemeinden sehen, aber die von Imam Hussein (a.) jedes Jahr in seinen Bann gezogen werden?

So ist deutlich, dass die Trauerveranstaltungen nicht nur empfohlen sind, sondern in der Vergangenheit und heute noch einen wesentlichen Teil zur Erhaltung des Glaubens und des Gedenkens der Familie des Propheten beitragen.

Gehört Politik dazu?

Die Schlacht von Karbala selbst war ein durch und durch politisches Ereignis, deshalb lautet die Antwort: definitiv ja! Wenn wir diesem heute gedenken und Tränen vergießen, dann nicht nur wegen der grausamen Verbrechen und der unübertroffenen Aggressivität. Wir müssen verstehen, warum Imam Hussein (a.) bewusst sein Leben und das seiner Familie und Anhänger opferte: zum Erhalt der Religion. Denn der Islam wäre mit Yazid als Führer zweifelsfrei im Untergang geendet. Zudem zeugte es von dem starken Glauben des Imams, dass er nicht einen einzigen Aspekt des Islams verraten hat, um weltlichen Qualen zu entgehen. Diese Aufgabe lässt sich auf die heutige Zeit übertragen. Trotz des äußeren Drucks, der Schwierigkeit und der Kosten darf uns nichts davon abhalten, an unserem Glauben festzuhalten und unsere religiösen Pflichten wahrzunehmen, wie beispielsweise der Verteidigung der Unterdrückten und dem Widerstand gegen die Unterdrücker.

Deshalb ist es falsch zu behaupten, dass eine Politisierung Aschuras stattfindet, denn es ist an sich schon ein politisches Ereignis, dessen wahres Gedenken ebenfalls politische Aktivität voraussetzt. Es mangelt uns hier nicht an Aussagen unserer geehrten Geistlichen. So rief Ayatullah Sayyid Ali Sistani 2016 dazu auf, Bilder der Märtyrer des Haschd al-Shaabi (irakische Volksmobilisierungseinheiten) auf den Arbainwegen zu platzieren, um die Erinnerung an sie präsent zu lassen.

Eher ist es die Bemühung einiger Bewegungen, Aschura den politischen Aspekt zu entziehen und seinen Charakter zu verändern. Während manche versuchen, diesen Aspekt aus unseren Trauerzeremonien zu verbannen, sehen sich andere in der Pflicht, die heutigen Tyrannen in ihren Veranstaltungen in Schutz zu nehmen und die Husseins dieser Zeit zu beleidigen.

Um der Politik Imam Husseins (a.) heute zu folgen, ist es von enormer Wichtigkeit, aktuelle Tyrannen von den Rechtschaffenen unterscheiden zu können. Dies gelingt mit der Wissensaneignung im geschichtlichen und politischen Bereich.

Wie es falsch laufen kann

Der Liedtext zu Beginn dieses Artikels ist ein sehr deutliches Negativbeispiel. In den meisten Fällen sind solche Botschaften unterschwellig und nicht unmittelbar zu erkennen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Rollen des Tyrannen und des Wahrhaften umdrehen, etwa dadurch, dass Fortschritt und Erfolg an ausschließlich materiellen Maßstäben gemessen werden. Klar, das BIP (Bruttoinlandsprodukt) in Westeuropa ist höher, die Infrastruktur größtenteils besser ausgebaut und die Armut geringer als etwa im Irak, aber auf wessen Kosten wurde dies erreicht? Wem es hier an historischem und politischem Wissen mangelt, der mag sich den Aussagen solcher pro-westlichen Menschen anschließen. Ein wenig Weitblick und Wissen führt aber zur Erkenntnis, dass der Westen in ethischer, sozialer und religiöser Sicht praktisch zerfressen ist.

Wie die Trauerveranstaltungen sein sollten

Ein Paradebeispiel für ein revolutionäres Aschura-Gedenken mit politischer Stellungnahme liegt für mich in den Trauersängern aus Bahrain. Für ihren besonderen Stil bekannt, heben sie seit Jahrzehnten in ihren Latmiyyas nicht nur die Unterdrückung in ihrem eigenen Land, sondern besonders in Palästina hervor. Und dies trotz gewaltsamer und unmenschlicher Unterdrückungsmaßnahmen durch das dort herrschende Hamad-Regime. Bekannte Latmiya-Sänger wie Scheich Hussein al-Akraf und Mahdi Sahuan sowie weniger prominente Gesichter wurden bereits verhört, eingesperrt und teilweise ins Exil geschickt. Trotz dessen bleibt das Revolutionäre in den Latmiyyas enthalten. Nicht zuletzt zum Martyrium Qassem Soleimanis und Abu Mahdi al-Muhandis und der Normalisierung der Beziehungen zum Apartheidregime durch den bahrainischen Staat. Es folgt die sinngemäße Übersetzung eines Ausschnittes einer Latmiyya von Scheich Hussein al-Akraf aus dem Jahr 2007 [2]:

Die Flagge „Israels“ hat ihre Form geändert
Und erhob sich unter uns in jedem Land
Sie unterwanderte die gesamte Politik
Bis die Araber vom Nil zum Euphrat versagten

Wie vor und während der Islamischen Revolution im Iran liegt ein unterschätzter Beitrag zur Moral und Motivation der Menschen dort in den politischen Trauergesängen. Solch entschlossenen und mutigen Menschen, die mit dem Gedenken an Imam Hussein (a.) genährt sind, ist ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung vorherbestimmt.

Das bedeutet, dass wir den Standpunkt Husseins (a.), besonders den Aspekt des Widerstandes gegen Tyrannen, in unsere Trauerveranstaltungen einfließen lassen müssen. Dazu bedarf es anhand eines Mindestmaßes an Wissen zunächst der Erkenntnis des Husseins (a.), aber auch des Yazids unserer Zeit.


  1. https://youtu.be/y2PUM55G3Uk ↩︎

  2. https://youtu.be/WI1fwXMUwLY ↩︎