„Und haltet allesamt am Seil Gottes fest und spaltet euch nicht.“ (Heiliger Quran, 3:103)

Das Führungsprinzip (Wilaya) ist die große Auszeichnung der Rechtsschule der Ahlulbayt (a.): ein Seil von Gott über seine auserwählten Reinen, in unseren Tagen der Verbliebene Gottes auf Erden, Imam Mahdi (a.), weiter über dessen Vertreter, den Waliyulamr Imam Chamenei (h.), und über ihn und seine zahlreichen Vertreter und Anhänger auf den verschiedensten Ebenen bis zu jedem einzelnen Muslim. Dieses Seil ist eine feste Handhabe, dessen Wahrung Einheit und Stärke bedeutet und dessen Vernachlässigung mit Spaltung und Schwäche bestraft wird.

Das Festhalten an dem Seil ist an persönliche Verantwortungen jedes Einzelnen geknüpft, derer sich keiner durch Nachahmung entziehen kann. Das gilt gleichsam für den Imam (Führer) jeder Ebene sowie seine Anhänger. Während die Pflicht des Anhängers wiederkehrend diskutiert und erläutert wird – vor allem im Zusammenhang mit der Mardschaiyya, aber auch der Befolgung von allgemeingültigen Anweisungen des Waliyulamrs, wie etwa dem verbotenen Blutigschlagen zu Aschura oder dem Verbot der Beleidigung sunnitischer Heiligtümer –, kommt der Anforderung an den Führer nicht die Aufmerksamkeit zugute, die sie verdient. Das erinnert an einen Vater, der seinem Sohn regelmäßig die Rechte der Eltern aus dem Sendschreiben der Rechte von Imam Sadschad (a.) predigt, aber den Abschnitt über die Rechte der Kinder geflissentlich auslässt. Bis der Sohn selbst nachliest und aus allen Wolken fällt.

Das ist im Einzelfall fatal. Was nützt das Festhalten an einem Seil, wenn es nicht das Seil Gottes ist? Was tun, wenn ein Führer einer Ebene versagt? Sind wir dann als Anhänger verdammt, ihm zu folgen, und hoffen, unsere Treue zur Wilaya möge unser Versagen des eingeschlagenen Irrwegs aufwiegen? Würde der Islam uns keine Sicherheitsnetze für diesen Fall liefern, wäre er nicht die vollständige Religion Gottes.

Die erste Führung findet jeder Mensch in seinen Eltern. Und deren Wilaya ist weitläufig, der Gehorsam und die Barmherzigkeit gegenüber den Eltern ist ein Gebot Gottes, welches mit der religiösen Volljährigkeit seine Gültigkeit nicht verliert, sogar im Falle anstrengender Greise: „Wenn einer von ihnen (den Eltern) oder beide bei dir ein hohes Alter erreichen, so sag nicht zu ihnen: ‚Uff!‘ (als Ausdruck des Frusts), und fahre sie nicht an, sondern sprich zu ihnen ehrerbietige Worte.“ (17:23)

Kinderhand in Elternhand
Die Waliys zu Lebensbeginn: unsere Eltern

Freilich ist die Wilaya der Eltern nicht grenzenlos. Sie findet ihre Schranken in den übergeordneten Gesetzen Gottes, deren Einhaltung schwerer wiegt als der Gehorsam gegenüber den Eltern. Wer nach Gott strebt, nach den Namen Gottes, nach Gerechtigkeit, Wahrheit, Gnade, für den ist alles im Leben Mittel zum Zweck dieses Lebenssinns. Auch das Seil Gottes und jeder Imam. Wenn sie diesem Zweck nicht mehr dienlich sind, so entfällt der Gehorsam als notwendige Bedingung. Denn es gibt kein höheres Ziel als Gott.

Gott führt uns das Kriterium der Wahrheit als Lackmustest an: „O ihr, die ihr glaubt, tretet für die Gerechtigkeit ein und legt Zeugnis für Gott ab, auch wenn es gegen euch selbst oder gegen die Eltern und die Angehörigen sein sollte. (...) Wenn ihr (das Zeugnis) verdreht oder davon ablasst, so hat Gott Kenntnis von dem, was ihr tut.“ (4:135)

Und Imam Ali (a.) sagte: „Wahrlich, die Religion Gottes wird nicht mittels der Leute erkannt, sondern durch die Zeichen der Wahrheit. Erkenne die Wahrheit und du erkennst ihre Leute.“ (Al-Amali: Die Lesungen des Scheich Mufid)

Unsere Führer haben sich an diesem Namen Gottes, an der Wahrheit zu messen. Die Wahrheit offenbart sich uns nicht durch Treue und Personenkult, unbedingten Gehorsam, und Schönreden jeder Missetat, sondern durch die Reinheit des Herzens, das die Wahrheit erkennen kann und anschließend (!) die Leute der Wahrheit erkennt, welche sich zum Seil Gottes verketten.

Doch birgt dieses Kriterium erneut die Gefahr des eigenen Egos als Anhänger: Mein (lokaler) Führer entschied anders, als ich wollte, deswegen bin ich verstimmt, in meiner Arroganz verletzt und meine nun plötzlich zu erkennen, dass die Wahrheit ihm entgegensteht. Von einem Augenblick auf den anderen wird mir scheinbar klar, dass er schon seit Jahren uns in die Irre führte, gegen wahrhaftige Unternehmungen einstand, sich durch Heuchelei einen Namen der Frömmigkeit aufbaute. – Und so betrügt das Ego den in seinem Stolz Verletzten, der kein Anhänger sein will, der seine Stellung im Gefüge allein als Führer sieht, während sein fehlgeleiteter Intellekt ihm von Wahrheit und angeblichen Verfehlungen seines Imams eingibt, denen er sich bereitwillig hingibt.

Wie nun unterscheiden, ob der Führer tatsächlich in seiner Funktion versagt oder es doch nur das Herz des Anhängers ist, das verstockt und blind sich sträubt zu folgen und den Wahrheitsschein gegen die Wahrheit einsetzt? Ultimativ geht am Dschihad-un-Nafs kein Weg vorbei. Kein Kriterium kann es mit der Gerissenheit des Egos aufnehmen, wenn man ihm das Steuer überlässt. Keine Richtschnur kann helfen, kein Flowchart eine Entscheidung bringen, die das Ego nicht in seinem Sinne manipulieren kann. So ist dies unsere erste Baustelle.

Aber Kriterien der wahrhaftigen Führerschaft gibt es dennoch, mögen sie auch nur anwendbar sein, wenn ein Mindestmaß an Wahrheitsbewusstsein vorhanden ist. Folgende Kriterien stehen uns zur Verfügung, um unsere Lehrer, Vorbilder, Gemeindeleiter, Organisationsvorsitzenden, Vertreter des Waliys an der Wahrheit zu messen – idealerweise vor einer schon eingesetzten Fitna, spätestens aber im Zuge ihrer Verwerfungen:

Kriterien an einen Imam
  1. Ist er der Wahrheit verpflichtet? Spricht er Wahres? Oder müssen wir des Öfteren die Wahrheit für uns selbst verdrehen, mit einem pelzigen Geschmack auf der Zunge, um unsere kognitive Dissonanz aufzulösen und Wahrheit und Führungsperson wieder in Einklang zu bringen? Sind seine Aussagen überprüfbar und gesteht er Fehler nach einer Falsifizierung ein oder gibt es stets die verschlungensten Erklärungen, warum die Überprüfung seine Behauptungen widerlegte?
  2. Begeht er öffentlich Sünden und besteht darauf? Hält er sich an die Schranken Gottes, auch im gesellschaftlichen, familiären und juristischen Rahmen?
  3. Gibt es eine Führungsperson, zu der er aufschaut, deren Rat ihm teuer ist, an die er sich in Zeiten von Fitna und Debatten wenden kann, und deren Rat er auch befolgt, selbst wenn er in seinem eingeschlagenen Weg umkehren muss und dies für sein Ego bitter ist? Gefragt ist nach einer ihm unmittelbar zugänglichen Führungsperson, deren Aufgabenbereich der Fragestellung angemessen ist. Eine Ausflucht von der Art: „Ich folge in dieser Streitfrage einzig Imam Chamenei persönlich, er muss das eigenhändig entscheiden, ohne es zu delegieren!“, ist in den seltensten Fällen angemessen und zeugt von Abgehobenheit.
  4. Ist er allgemein bereit, gegenüber seinen Anhängern Fehler einzugestehen, in seinem Weg umzukehren?
  5. Akzeptiert er auch Kritik und Rat von anderen? Akzeptanz bedeutet nicht, jedem Rat stets zu folgen, sicher nicht. Aber es bedeutet mindestens, nicht jeden Rat offenkundig auszuschlagen, gar den Ratenden zu schmähen und den Kritiker allein wegen seiner Kritik zu verachten. Idealerweise berät er sich stets vor wichtigen Entscheidungen mit geeigneten Vertrauten, insbesondere Entfernteren, die auch zuvor guten Rat gaben, und verbleibt nicht in einem selbstkreierten Dunstkreis von Anhängern.

Darüber hinaus sollte er je nach Führungsebene und konkreter Aufgabe selbstverständlich die Kriterien der grundsätzlichen Eignung erfüllen, die aber nicht Thema dieses Artikels sind.

Wenn nun der Führer in einem oder mehreren dieser Punkte versagt und zudem der falsche Weg offenkundig eingeschlagen ist und man als Anhänger anhand dieser Kriterien sowie dem Austausch mit weiteren erfahrenen und von der jeweiligen Streitfrage entfernteren Geschwistern zu dem sicheren Schluss gelangt ist, dass ein fataler Irrtum vorliegt, was tun?

Die erste Pflicht eines wahrhaftigen Anhängers ist es, in bestgeeigneter Weise seinen Führer zu unterstützen, auch und gerade in solch einer Prüfung. Aber nicht unterstützen in der Falschheit, sondern kräftigen, zurück zur Wahrheit zu finden. Die genauen Methoden hängen von den Umständen und persönliche Beziehungen und Möglichkeiten ab; essenziell ist es aber, in der ersten Stufe die volle Ehre und Achtung zu bewahren und ihm einen Weg aufzuzeigen, gesichtswahrend umzukehren. Sollte dies fehlschlagen und trotz immer eindeutigerer Herangehensweisen keinerlei Einsicht erzielt werden, sodass ein weiteres Befolgen dieses Führers zu mehr Schaden als Nutzen führt, muss man sich von ihm verabschieden. Entweder schweigsam oder – im Extremfall, der sehr selten ist – andere darüber aufklärend.

Diese Schritte sind überaus schmerzhaft, vor allem das Eingeständnis, dass der eigene Führer einem offenkundigen Irrweg folgt. Schmerzhaft und überwältigend schwer, denn das eigene Ego steht wieder im Weg. Aber die Wahrheit kennt keine Bande abseits von Gott und so kann diese Einsicht notwendig sein; eine Prüfung, deren Meisterung wiederum zu Gott führt.

Das Kriterium der Wahrheit ist keinesfalls auf lokale Imame beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf den Waliyulamr selbst und sogar auf Imam Mahdi (a.). Denn während Letzterer rein von Makeln ist, so sind wir es nicht notwendigerweise und mögen einem falschen Mahdi anhängen, Gott bewahre. Al-Haqq würde uns aber selbst aus einem derart furchtbaren Weg zurückleiten, denn Gottes Seil reicht bis in jede Hand zu jeder Zeit.