Modus der Debatte: Beide Debattierer reichten jeweils einen Text mit ihrer Position ein. Anschließend erhielten beide den Text des anderen und verfassten eine Antwort auf die Argumente der Gegenseite. Es folgen die beiden Positionstexte und Antworten. Offenkundiges dankt Qassim und Mahmoud für ihre Teilnahme an diesem Format.
Qassim Challaf, Autor bei Offenkundiges, vertritt die Position pro Aktivität auf Facebook. | |
![]() |
Mahmoud Ayad, Martkforscher und Autor bei Offenkundiges, vertritt die Position kontra Aktivität auf Facebook. |
Qassim Challaf: Pro Aktivität auf Facebook
Ein zionistischer Siedler überfährt drei Kinder im südlichen Westjordanland. Schrecklich, teilen. Nach 25 Jahren baut die zionistische Regierung erneut Siedlungen nordöstlich von Ramallah und Netanjahu twittert: „Nach Jahrzehnten habe ich die Ehre, der Regierungschef zu sein, der eine neue Siedlung in Judäa und Samaria im Westjordanland baut.“ Ehre, welche Ehre? Das wird auf jeden Fall mit Beitrag geteilt. Es wurde ein Infostand für die Aktion „Eine Frau wie du“ in der Delmenhorster Innenstadt aufgestellt. Gefällt mir! Imam Chameneis letzte Rede wurde auf Offenkundiges veröffentlicht. Lesen, teilen. Ein lieber Bruder hat heute Geburtstag, alhamdulillah wurde ich daran erinnert.
Ihr habt sicherlich erkannt, worum es geht: Facebook. In Deutschland wird es von 28 Millionen Menschen genutzt, 24 Millionen nutzen es auf dem Mobiltelefon. Laut meiner Chronik bin ich seit 2009 dort angemeldet. Im Laufe der Jahre hat sich mein Umgang mit dieser Plattform verändert. Anfangs nutzte ich sie aus rein sozialen Gründen. Doch ich erkannte die Reichweite von Facebook, meine wachsende Freundschaftsliste und das Potential, das dahinter steckt. Ich hätte es für meine Selbstdarstellung nutzen können, wie einige andere auch. Stattdessen schloss ich mich den vielen Menschen an, die das Potential von Facebook lange vor mir erkannt hatten und bin islamisch aktiv geworden. Wieso nicht? Sollte der Islam nicht im Mittelpunkt jeder täglichen Aktivität in unserem Leben stehen? Demnach auch auf Facebook.
Wenn wir auf dieser Plattform nicht islamisch aktiv sind und sie nicht zur Stärkung des Islams und der Muslime nutzen, erlauben wir den Hetzern und Heuchlern, die Menschen dort widerstandslos mit falschen Informationen und Propaganda zu infizieren. Dafür müssten wir uns vor Gott verantworten, denn wer gegenüber dem Unrecht schweigt, ist wie ein stummer Teufel (arabisches Sprichwort). Seit 2009 hat Facebook viele Updates durchgeführt. Heute lassen sich unter anderem Videos oder Livestreams auf Facebook hochladen. Das ist gut. Es ermöglicht uns, schnell auf diffamierende Angriffe oder politische Entscheidungen zu reagieren und aktuelle Themen aus einer islamischen Perspektive darzustellen. Viele islamische Gemeinden nutzen den Livestream, um ihre Veranstaltungen denen zugänglich zu machen, die nicht die Möglichkeit haben, vor Ort zu sein. Doch ich denke, dass wir das Potential dieser medialen Form noch lange nicht ausgeschöpft haben.
Facebook bietet eine starke Alternative zu den etablierten Medien. Diese hatten vor Jahren noch das Monopol auf die Wahrheit. Was Springer und Co. publizierten, konnte schwer wiederlegt werden. Und wenn, dann nicht besonders effektiv, da die notwendige Reichweite fehlte.
Dank Facebook ist es heute anders. Binnen Minuten erhalten wir die ersten Videos von terroristischen Anschlägen durch westliche Militärflugzeuge oder deren Schergen vor Ort, dem IS, meistens noch vor den Medien. Ob Senator McCain, der sich mit Abu Bakr al-Baghdadi (Anführer des IS) trifft, Sigmar Gabriel, der sich mit rechtsextremistischen Swoboda-Mitgliedern fotografieren lässt, oder israelische Soldaten, die ein Messer neben einem erschossenen palästinensischen Jugendlichen drapieren; dank Facebook erhalten wir diese Aufnahmen unmittelbar und können uns ein eigenes Bild machen. Auf anderem Wege wäre es schwer, an solche Informationen zu gelangen. Die hiesigen Medien schweigen sich zu solchen Vorfällen aus.
Es ist an uns, diese Informationen zu interpretieren, auf Plausibilität zu prüfen und den hier lebenden Menschen zugänglich zu machen. Damit nehmen wir unsere islamische Pflicht wahr und engagieren uns für Gerechtigkeit. Ohne die islamischen Aktivitäten auf Facebook haben unsere Mitbürger keine andere Wahl, als die ihnen präsentierten Darstellungen zu glauben. Imam Chamenei hat in seinem ersten Brief an die Jugend in Europa und Nordamerika [1] eingeladen, den Islam aus seinen echten Quellen und aus erster Hand kennenzulernen. Auf Facebook haben die Briefe unzählige Leser erreicht. Uns wurde damit aufgetragen, für die Fragen dieser Menschen zur Verfügung zu stehen. Wie sollen wir diesen Menschen als echte Quelle dienen oder Zugang zu echten Quellen ermöglichen, wenn wir eine Plattform, auf die 28 Millionen Deutsche zugreifen – mehrheitlich Nichtmuslime – nicht für islamische Aktivitäten nutzen? Das wäre absurd.
Gepaart mit Hashtag-Aktionen potenziert sich die Reichweite um ein Vielfaches. Spontan fallen mir da die Aktionen zur Verteidigung der verehrten Gelehrten Hamza Sodagar und Dr. Torabi ein. Die Aktionen erfuhren eine europaweite Beteiligung. Durch die rege Teilnahme vieler Muslime, die unterschiedlichste mediale Mittel nutzten, fuhr die Hetzkampagne der Boulevardpresse The Sun gegen die ehrenwerte Person Hamza Sodagars vor die Wand. Es war die schiere Anzahl der Muslime, die mit dem Hashtag #StandWithShaykhHamza[2] die falschen Darstellungen richtigstellten und damit die geistigen Brandstifter überraschte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die Muslime dazu geschwiegen hätten.
Ähnliches hat der deutsche Ableger der Sun, die Bild mit dem ehrenwerten Dr. Torabi in Deutschland versucht. Gleiches Ergebnis: Die Muslime sind gemeinsam gegen die Hetze vorgegangen und haben sich geschlossen hinter Dr. Torabi gestellt. Die Bild hatte das Ziel, mit ihrem Bericht die Gelehrten vom Qudstag 2017 abzuhalten. Nach dem Echo der Muslime auf Facebook nahm nicht nur Dr. Torabi in Berlin am Qudstag teil, sondern aus Solidarität auch viele weitere Gelehrte. Neben weiteren Aktionen zur Richtigstellung falscher Tatsachen konnten viele Menschen erreicht und richtig informiert werden. Wie uns die Löschung vieler unserer Kommentare auf deren Profilen in Facebook beweist, sind die Schippmanns[3] der Springer-Presse nicht erfreut, wenn sie auf Facebook einen geteilten Offenkundiges Artikel mit ihrem Namen sehen und lesen müssen.
Mahmoud Ayad: Kontra Aktivität auf Facebook
Wieso sollte ich auf Facebook islamisch aktiv sein? Ganz ehrlich, die meisten Leute sind doch nicht mehr auf Facebook aktiv. Nicht einmal passiv. Jeder hat zwar einen Account, doch die meisten schauen rein, oft weil sie mal Bekannte oder Verwandte wegen irgendetwas kontaktieren müssen. Oder wenn sie mal sehen wollen, was aus diesem und jenem geworden ist. Grillvideo von Hassan, Familienfoto von Pascal, Katze von … egal von wem, hauptsache Katze.
Klar, es gibt auch Leute, die Informationen, Nachrichten und anderes Wissenswertes aus Facebook beziehen – aber nur in Form von Bildern oder Videos. Und wenn ihnen doch mal etwas in Form von Artikeln in der Historie erscheint, dann wird nur der Titel gelesen oder maximal die Einleitung. Liken, teilen, weiterscrollen.
Der Grund ist nicht etwa Desinteresse: Viele, die auf Facebook passiv-aktiv sind, sind von Texten überfordert. Alles, was mehr als zwei Sätze lang ist, ist zu viel. Seiten, die nur kurze Zitate, nur Bilder oder Fakten in weniger als 100 Zeichen verbreiten, laufen jeder seriösen Zeitung in puncto Anhänger auf Facebook den Rang ab. Und auch jeder Unseriösen, wie der traditionell für die lesefaule Zielgruppe zuständigen Bild.
Dazu kommt, dass gerade die Jugend, die wir über islamische Aktivitäten erreichen möchten, nicht mehr besonders auf Facebook vertreten ist. Andere Messenger und soziale Netzwerke – vor allem solche, die sich vollends auf Bilder fokussieren, wie Instagram – werden von Jugendlichen mehr genutzt. Heißt das in der Konsequenz, dass wir auf Instagram und Snapchat umsteigen müssen? Nein. Vielmehr müssen wir unsere Anstrengungen auf andere Aktivitäten im Internet richten.
Diese anderen Aktivitäten sehe ich beispielsweise in eigenen Strukturen. Warum müssen wir uns immer von US-Plattformen abhängig machen, heißen sie nun Facebook, Youtube, Twitter oder Instagram. Haben nicht alle diese Plattformen immer wieder islamische Accounts einfach stillgelegt, sobald sie anfingen, wirklich effektiv und erfolgreich zu sein? Stecken wir lieber unsere Anstrengungen in Werbe- und Marketingmaßnahmen, sodass wir mehr Menschen auf unsere eigenen Plattformen holen. Positiver Nebeneffekt: Wir entziehen Marc Zuckerberg und Co. unsere Unterstützung bei der Datensammlung über uns und andere.
Selbst für die Marketingmaßnahmen ist Facebook kein Muss. Die islamische Jugend erreichen wir zu Muharram und anderen Ereignissen deutschlandweit zu Abertausenden. Warum nicht hier mit Werbung für unsere eigenen Strukturen auftreten? Das kann mitunter auch ganz subtil geschehen. Bemühen wir uns hier etwas mehr, dann wird die Masse automatisch folgen.
Und für das Erreichen der Nichtmuslime gibt es ebenfalls andere Wege, z.B. auch im Internet selbst. Zwei Stunden, investiert in die Suchmaschinenoptimierung der islamischen Website, sind meiner Meinung nach wertvoller als zehn auf Facebook geteilte Artikel. Die Facebook-Artikel liken und teilen ohnehin immer dieselben Leute (und scrollen weiter). Aber wer über die Suchmaschine auf uns stößt, der wollte etwas finden und sich informieren. Und er findet.
Facebook befindet sich mit Milliarden von registrierten Menschen auf dem Gipfel seiner Macht, sodass viele schon ein Monopol im Netz befürchtet haben. Meine Prognose ist aber, dass es für das soziale Netzwerk bald schon bergab geht und sich das Internet wieder ausdifferenziert. Facebook wird als eine Art post-moderne, interaktive Entertainmentplattform weiter existieren, jedoch wird seine Rolle für die Meinungsbildung zurückgehen. Entsprechend sollten wir lieber zusehen, wie wir die Zukunft des Internets mitgestalten und uns nicht mehr von einer vermeintlich hohen Reichweite im blauen Riesen blenden lassen. Am Ende wird die Qualität nämlich die Quantität schlagen.
Antwort von Qassim (pro) auf Mahmoud (kontra)
Richtig, in dem Pool der sozialen Medien liegt die Nutzungsdauer von Facebook hinter Snapchat und Tumblr. Trotzdem ist sie mit ca. zwei Stunden täglich hoch genug. Wenn von dieser Zeit ein Teil für islamische Inhalte genutzt wird, ist das ein Gewinn für uns. Lass sie den Rest der Zeit Katzenvideos schauen. Im Laufe der Zeit, wenn die islamischen Ideen und Ideale in ihren Köpfen keimen, verbringen sie mehr Zeit mit dem Islam und weniger mit Kitty.
Wichtig ist für uns, wenn wir islamisch aktiv sein und Inhalte vermitteln wollen, dies nicht nur über Artikel zu tun. Ohne Zweifel, Artikel sind wichtig und sollten weiterhin geschrieben werden. Dennoch sollten wir uns der Zeit anpassen. Wenn wir die uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen, sind wir viel effektiver. Was spricht gegen kurze Videos oder Bilder mit islamischen Inhalten? Wir würden das Rad nicht neu erfinden. Fakten vermitteln mit weniger als 100 Zeichen – eine neue Idee, Offenkundiges-Artikel auf Facebook zeitgemäß zu präsentieren. Die englischsprachige Media-Plattform „Pure Stream“ nutzt diese Form der Wissensvermittlung mit stetig wachsendem Erfolg. Mit Radio Wilaya gehen wir bereits in die richtige Richtung. Wir sollten diesbezüglich noch aktiver werden. Die Frage ist nicht: Islamisch aktiv sein auf Facebook, ja oder nein? Die Frage lautet: Islamisch aktiv sein, aber wie?
Was die eigenen Strukturen betrifft, gebe ich dir vollkommen recht. Die brauchen wir in vielen Bereichen. Ein erster Versuch, Muslime miteinander zu Vernetzen wurde bereits unternommen, doch wir befinden uns am Anfang und brauchen mehr Zeit. Für die Zukunft ist es dennoch ein Muss. Aber was machen wir in der Zwischenzeit? Wir können nicht alle an diesen Strukturen arbeiten, alleine schon weil uns (mir) das Know-how fehlt. Andererseits können wir nicht tatenlos darauf warten. Wir müssen beides parallel betreiben. Während die Fachleute islamische Plattformen weiterentwickeln, halten wir ihnen den Rücken auf Facebook frei und werben gleichzeitig in eigener Sache.
Du argumentierst, dass wir die Jugendlichen während einer Veranstaltung, die du nicht auf Facebook ankündigen willst, subtil für eigene Strukturen gewinnen sollen, die es noch nicht gibt. Wieso einen Schritt zurückmachen? Wir sollten die vorhandenen Strukturen auf die beste Weise nutzen, bis wir unsere eigenen fertiggestellt haben.
Wenn ich an die ganzen Schauerbilder zu Aschura denke, müsste die Suchmaschinenoptimierung der islamischen Website schon einen gehörigen Schlenker machen, um das abzudecken. Da verspreche ich mir mehr von einem Beitrag auf Facebook. Und seien wir ehrlich, du wirst diesem Artikel ein Like geben und ihn anschließend teilen, weil du nicht anders kannst, als auf Facebook islamisch aktiv zu sein.
Antwort von Mahmoud (kontra) auf Hassan (pro)
Bricht man alle Argumente, die für die islamische Aktivität auf Facebook sprechen, auf das Wesentliche herunter, dann bleibt nur ein einziges Argument übrig: die hohe Reichweite. Und sie ist auch zugleich ein wichtiger Grund, dort eben nicht aktiv zu werden. Die hohe Zahl der dort registrierten Menschen sollte uns eher dazu motivieren, die Menschen von Facebook wegzubekommen. Nicht auszudenken, wo die Muslime heute wären, wenn sich die Vielzahl der Menschen – Muslime wie Nichtmuslime – auf wirklich unabhängigen Plattformen begegnen würde. Weil unterm Strich ist nicht Facebook als Plattform der eigentliche Segen, sondern die Welt des Cyberspace an sich.
Die vielen genannten technischen Mittel, die Facebook bietet, hat das soziale Netzwerk größtenteils weder erfunden, noch ein Patent darauf gesichert. Hashtags? Funktionieren auch woanders. Bilder, Videos, Texte teilen? Die Technik dazu stammt teilweise noch aus dem letzten Jahrhundert – als Mark Zuckerberg noch ein Kind war. Was sich geändert hat, sind vor allem die Menschen, die heute über bessere Hardware und die immer paraten medialen Produktionsmittel in ihrem Smartphone verfügen. Gäbe es Facebook nicht, gäbe es ebenso Informationen aus aller Welt in Echtzeit. Und es gibt auch heute schon massenhaft gute Websites und Blogs, die wertvolle alternative Nachrichten verbreiten. [Hier] werden z.B. häufig solche verlinkt.
Wir sollten keinen Hetzern und Heuchlern erlauben, die Menschen mit Informationen und Propaganda zu infizieren, und schon gar nicht widerstandslos. Jedoch kann die Lösung dafür nicht darin bestehen, auf einer finanziell wie ideologisch von Hetzern und Heuchlern dominierten Plattform Widerstand zu leisten. Eine Alternative zu den etablierten Medien ist Facebook nicht, es handelt sich lediglich um einen Kanal, der anders funktioniert und gesteuert wird – und zwar von einem viel mächtigeren Monopol als es Springer es jemals gewesen ist.
Es ist kein Geheimnis, dass Facebook immer wieder islamisch-revolutionäre Seiten kommentarlos sperrt, während islamfeindliche Gruppen sich nach Herzenslust tummeln dürfen und deren Hetze kaum zensiert wird. Eher sollten wir Letzteren Facebook hinterlassen und dabei versuchen, die vernünftigen Menschen auf andere Art und Weise aufzuklären und einzuspannen. Notfalls kann das auch mal über Facebook geschehen, aber das darf nicht die Regel sein.
Das Internet bietet gewaltige Möglichkeiten für Aktivitäten. Wenn wir Faulheit und Pessimismus ablegen und dafür fleißig, gut vernetzt sowie vor allem kreativ und kontinuierlich die Menschen auf den Weg der Gerechtigkeit einladen, erreichen wir im Internet mit Gottes Hilfe, unabhängig von Facebook, nicht nur ebenso viele Menschen, wir befreien sie auch noch von der blauen Datenkrake.