Dank der Gnade Gottes sind in den letzten Monaten einige unserer geschätzten deutschsprachigen schiitischen Geistlichen auf Youtube, Facebook und Instagram in die Öffentlichkeit gegangen, wovon viele Zuschauer profitieren konnten. Von einigen beachtenswerten Ausnahmen abgesehen, handelte es sich um Vorträge, live gestreamt oder aufgezeichnet. Die Zeit aber ist reif für den Geistlichen, der exklusiv den Zuschauer online anspricht: direkt in die Kamera, intim, immersiv, attraktiv – influencig.
Mittels eigens produzierten kurzen Videos, die dank ihrer erlebten Authentizität ein hohes Identifikations- und Vorbildspotenzial bieten, eröffnet sich unseren Geistlichen die Chance, die schiitischen Jugendlichen in ihrer Muttersprache für den gelebten Islam zu begeistern, sie anzuleiten und durch ihr Leben zu geleiten. Die Notwendigkeit dazu ist in unserer Zeit des weichen Krieges, der auch unsere Jugendlichen erschüttert, unbestritten.
Die sozialen Medien ermöglichen uns heute eine große Reichweite, die technischen Hürden sind niedrig und das wichtigste: Junge deutschsprachige Geistliche, die in unserer Umma in Deutschland wirken wollen, haben inzwischen ihr Theologiestudium abgeschlossen oder stehen kurz davor.
Die folgende Projektbeschreibung und mögliche Qualifikationen sind nur mein persönlicher Vorschlag und sollen lediglich als Anregung für Geistliche dienen, das Konzept zu verbessern und, sofern sie es als geeignet ansehen, umzusetzen.
Projektbeschreibung
Allgemeine Beschreibung: Ein Video-Kanal auf einer oder mehreren der großen Sozialen Netzwerke – Youtube, Facebook, Instagram –, alternativ im Falle von Zensur auch in Chats (Telegram-Kanal) oder eigener Internetseite. Jedes einzelne Video behandelt innerhalb von 5–15 Minuten ein präzises Thema. Die Bandbreite der Themen ist so weit denkbar wie das Interesse unserer Jugend: Alltagsfragestellungen, Politik, gesellschaftliche Kontroversen, Philosophie, Atheismus, Heirat und Ehe, explizit religiöse Themen, Historisches, Tagesaktuelles, Herausforderungen in Schule und Uni, soziale Probleme. Nicht alles davon muss Thema im Kanal sein, in Abhängigkeit von den Interessen und Kenntnissen des Geistlichen. Es darf sich aber nicht allein auf akademisch-religiöse Spezialthemen beschränken, die an der Hauza gelehrt werden, sondern es muss die entscheidende Transferleistung auf jene Themen erbracht werden, die unsere Jugend bewegen.
Zielgruppe: Jugendliche Schiiten beider Geschlechter im Alter von 15-25 Jahren.
Format: Der Geistliche im Geistlichengewand spricht direkt und frei in die Kamera, baut eine Beziehung zum Zuschauer auf, die Identifikation und Vertrauen erlaubt. Dies kann mit oder ohne Schnitte und Einblendungen geschehen, ein einfacher unbearbeiteter Vlog-Stil genügt.
Upload-Intervalle: 1–2 Videos pro Woche, jede Woche. Das ist notwendig, um den Kanal am Leben zu halten, insbesondere in den ersten Monaten, so dass er an Fahrt gewinnen kann und die Zuschauer sich auf neuen Content verlassen können, der zur selbstständigen Wiederkehr auf den Kanal motiviert.
Nachbereitung: Ausführliche Beantwortung von Fragen und Kommentaren. Das ist ein sehr wichtiger, oftmals unterschätzter Aspekt. Ein Videokanal dieses Formats lebt durch die Community und deren treuer Begleitung – sogar und vor allem überkritisch gesinnte Zuschauer tragen durch ihre Kommentare zur Attraktivität des Kanals bei.
Notwendige Qualifikationen
- Muttersprachlich deutschsprachiger Geistlicher, der in den Videos im Geistlichengewand mit Turban auftritt – und dazu berechtigt ist.
- Intellektuelle Fähigkeit und Bereitschaft, sich mit den oben genannten Themen ausreichend zu beschäftigen, um einen gewissen Teil dieser Bandbreite – nicht notwendigerweise alles – abdecken zu können.
- Bereitschaft, für die Jugendlichen bedeutende Themen zu besprechen, ob philosophisch (seltener) oder profan-alltäglich (häufiger), und dabei auch vor traditionellen Tabuthemen nicht Halt zu machen.
- Bereitschaft, kontroverse Themen wie etwa Homosexualität, Gendermainstream, Atheismus, Zionismus oder Geschlechterrollen sachlich, aber klar und eindeutig zu behandeln – ohne den unvermeidlichen Tadel des Tadelnden zu fürchten.
- Bereitschaft, jede Woche die notwendige Zeit zu investieren. Der Gesamtaufwand eines Videos ist mit Vor- und Nachbereitung minimal auf drei Stunden zu schätzen, je nach Video auch erheblich länger.
- Minimale technische Fähigkeiten für die Aufnahme und Upload der Vlogs, die allerdings jeder Einzelne unserer Generation besitzen dürfte und die sich in kürzester Zeit lehren lassen. Falls Schnitte und Einblendungen erfolgen sollen, muss der Geistliche sich in ein Schnittprogramm einarbeiten (heutzutage keine große Hürde mehr).
Notwendiges Equipment
Anfangs genügt das eigene Smartphone auf einem Mini-Stativ. Mittelfristig praktikabler sind Kamera, Stativ und Mikrofon als Grundausstattung. Ein solides Set lässt sich für 400 Euro zusammenstellen. Im Bedarfsfall noch PC mit genügend Leistung, Scheinwerfer und Software. Selbst eine hochwertige Komplettausstattung ist für unter 2000 Euro finanzierbar.
Verbreitung
Die Videos verbreiten sich primär durch die begeisterten Zuschauer und eigene Bewerbung mittels muslimischer Multiplikatoren sowie nur sekundär über die Algorithmen der Portale – ein ausschließliches Vertrauen in die Algorithmen wäre ein großer Fehler, zumal die Portale jederzeit den Kanal einseitig und ohne Begründung löschen können. Daher ist es entscheidend, jedes Video lokal abzuspeichern, um es ggf. auf anderen Plattformen oder eigenen Seiten neu hochladen zu können. Anfangs genügt dafür eine Doppel-Strategie, beispielsweise einem Hauptkanal auf Youtube und einem Backup-Kanal in Telegram.
Aller Anfang ist schwer
Die ersten Videos aller Youtuber zeigen einen Sprecher ohne Mimik und Gestik ganz leblos in die Kamera sprechen. Seine Inhalte sind so langweilig wie sein Ausdruck. Denn das einsame Sprechen in die Kamera fällt allen Menschen anfangs schwer, doch das ändert sich schnell.
Möglicherweise bewertet einer unserer Geistlichen dieses Projekt als prinzipiell geeignet und spielt mit dem Gedanken, es in der beschriebenen oder anderen Form umzusetzen. In meinen Augen wäre das für unsere Umma in Deutschland ein großer Gewinn.