Ein schönes Haus, ein frommer Partner, ein angesehener Beruf. Wer wünscht sich das nicht für sein Kind? Besonders Letzteres ist seit jeher ein unersetzbarer Punkt auf der Wunschliste muslimischer Eltern. Dabei reicht das, was bei einigen muslimischen Eltern als „angesehen“ betrachtet wird, häufig nicht über den Arzt-, Anwalts- und Ingenieursberuf hinaus. Diese Berufe scheinen in den Augen mancher muslimischer Eltern überhaupt die einzigen zu sein, für die es sich lohnen würde, arbeiten zu gehen. Das trifft besonders die Jungen, die in den Augen derselben Eltern noch immer diejenigen sind, die das Ansehen der Familie repräsentieren. Gehemmt in ihrer freien Entfaltung wird dem männlichen Nachwuchs der Weg ins Berufsleben unnötig schwer gemacht.
Die Arbeit im Islam
Bevor wir uns der Berufswahl und den Vorstellungen mancher Eltern darüber widmen, müssen wir zunächst eines hervorheben: Die Arbeit gehört zum Islam. Das bezeugen nicht nur die vielen uns bekannten Verse und Überlieferungen. Auch die uns übermittelten Biographien der Propheten zeigen einhellig: Alle uns bekannten Propheten waren vor ihrer göttlichen Bestimmung berufstätig. Während einige auf dem Felde ackerten, vergossen andere ihren Schweiß im Handwerk. Um ihre Familien zu versorgen, war den göttlichen Botschaftern keine Arbeit zu schade.
Auch der Letzte und Beste unter ihnen – Prophet Muhammad (s.) – ging vor seiner göttlichen Mission einem Beruf nach. Der Prophet arbeitete als Händler und war darin so erfolgreich, dass er seiner Vorgesetzten und späteren Ehefrau Chadidscha (a.) große Gewinne einbrachte. Selbst nach seiner Berufung und der damit verbundenen Verkündigung der Botschaft legte der Prophet als islamisches Oberhaupt in Fällen, in denen er die Möglichkeit hatte, mit Hand an. Bekannt ist sein beharrlicher Einsatz beim Bau der ersten Moschee in Medina, als er Lehmblöcke mit seinen eigenen Händen von einer Stelle zur anderen beförderte.
Der Prophet Muhammad (s.) liebte die harte Arbeit. Für ihn war die Arbeit eine Form des Gottesdienstes. Ein zusätzliches Angebot, seinem Schöpfer Dankbarkeit zu erweisen. Mit klaren Worten und seinem vorbildlichem Einsatz machte er die Muslime auf den göttlichen Stellenwert der Arbeit aufmerksam. Solange der gläubige Muslim arbeitet, so sprach er einst, befindet er sich bis zu seiner Rückkehr auf dem Wege Gottes [fi sabil Allah]. Eine Auszeichnung unter vielen, die er der Arbeit verlieh. Gleichzeitig tadelte er die Männer, die der Arbeit unbegründet entfliehen. Wer der Arbeit entflieht und die eigenen Aufgaben anderen aufbürdet, so mahnte er, ist verdammenswert.
Mit der islamischen Pflicht, arbeiten zu gehen, geht für einen gläubigen Muslim nun auch die richtige Wahl des Berufes einher. Was früher unkompliziert vonstattenging, – die Männer führten in aller Regel die Berufstradition des Vaters fort –, ist heute in der Folge der gesellschaftlichen Entwicklung komplexer geworden. Der enorme Wissenszuwachs hat dazu geführt, dass sich neue Berufszweige und viele Spezialisierungen etabliert haben. Das macht es dem Arbeitssuchenden heute schwer, den für sich richtigen Beruf auszuwählen. Für einen Muslim kommt noch dazu, dass der in Frage kommende Beruf mit den islamischen Zielen konform gehen muss. Ein gläubiger Muslim wird keinen Beruf antreten, der mit den Zielen seiner Religion kollidiert; der ihm also auf materieller oder spiritueller Ebene Schaden zufügt. Er wird in Anlehnung an den Propheten Muhammad (s.) einer Arbeit nachgehen, die der Gesellschaft nützt und seine Entwicklung voranbringt.
Der passende Beruf
Nun gibt es für einen gläubigen Muslim – Gott sei Dank – etliche Berufe, die den islamischen Zielen nicht widerstreiten. Dabei geht die Anzahl weit über den begrenzten Rahmen hinaus, den manch ein muslimisches Elternpaar seinem Kind vorgibt. Darunter gibt es Berufe im Elektrobereich und der IT, im Dienstleistungssektor und der Produktion, in der Pädagogik und vielen weiteren Bereichen, wobei jeder Bereich etliche Berufe beinhaltet.
Für welchen Beruf sich der gläubige Muslim nun entscheidet, kann am Ende nur er selbst beantworten. Der arbeitssuchende Muslim steht selbst in der Verantwortung, sich Gedanken darüber zu machen, welcher Beruf ihn interessieren könnte. Für gewöhnlich kennt er seine Interessen, Stärken und Schwächen. Er weiß, was er kann und was er weniger gut beherrscht. Es dürfte ihm in einem ersten Schritt also nicht schwerfallen, eine grobe Eingrenzung vorzunehmen. In einem zweiten Schritt muss er den Kreis an Berufsmöglichkeiten durch eine erneute Selbstreflexion noch kleiner machen. Hier kann es hilfreich sein, sich mit Eltern, Freunden und Geschwistern auszutauschen. Das darf und kann ruhig mehr Zeit in Anspruch nehmen.
Die Eltern haben die Aufgabe, ihr Kind in seinem Selbsterkundungsprozess zu begleiten. Manchmal ist das Kind auch in höherem Alter nicht in der Lage, die eigenen Interessen und Fähigkeiten zu ermitteln. Hier liegt es an den Eltern, das Kind auf die eigenen Präferenzen aufmerksam zu machen, verbunden mit einer möglichen Berufsperspektive.
Genauso aber, wie Eltern dem Kind einen Beruf in Anlehnung an seinen Interessen vorschlagen können, sollten sie auch die Stärke besitzen, ihrem Kind von einem Beruf abzuraten. Das ist erforderlich, wenn das Kind einen beruflichen Weg einschlagen möchte, für den es offensichtlich ungeeignet ist. Mit einer ehrlichen Einschätzung schützen muslimische Eltern langfristig nicht nur ihr Kind vor einer möglichen Fehlentscheidung: Sie schützen auch die Gesellschaft vor den möglichen Fehlern einer Person, die für ihren Beruf im schlimmsten Falle ungeeignet ist. Denn so sehr sich die Eltern den Arztberuf für ihr Kind auch wünschen, so wenig wird es dafür geeignet sein, wenn es bei jedem Arztbesuch in der Folge des Anblicks von Blut kollabiert.
Wer aber noch besser verstehen möchte, wie gefährlich das sein kann, wenn Menschen einer für sie ungeeigneten Tätigkeit nachgehen, braucht nur einen Blick auf die uns regierenden Politiker zu werfen.
Studium oder Ausbildung
Ob sich das Kind am Ende für ein Studium entscheidet oder eine Ausbildung bevorzugt, ist abhängig von dem jeweiligen Beruf, den es erlernen möchte. Zu viele muslimische Eltern kennen nur eine Richtung: Studium. Sie wollen ihr Kind um jeden Preis studieren sehen – und das, obwohl nicht jeder Beruf ein Studium an einer Universität erfordert. Wer über die Ausbildung zu seinem Traumberuf gelangen kann, braucht kein universitäres Studium! Die Ausbildungsaversion, die manche muslimische Eltern hegen, ist ein großes gegenwärtiges Problem. Sie hat dazu geführt, dass so manche Brüder und Schwestern ihren bevorzugten Beruf nicht angetreten haben, weil sie von den Eltern zu einem Studium gedrängt wurden. Dabei ist ein studierter Beruf nicht per se besser als ein über den Ausbildungsweg erlernter Beruf . Wer zum Beispiel gut Geld verdienen möchte, kann das auch über den Ausbildungsweg – auch wenn das Geld für einen gläubigen Muslim nicht der treibende Faktor sein sollte, weshalb er einen Beruf auswählt. Wichtiger als das Geld ist neben der bereits behandelten Konformität mit den islamischen Zielen nämlich das Interesse und die Freude an der Arbeit.
Muslimische Eltern haben ihr Kind vor diesem Hintergrund zu unterstützen, ganz gleich, ob es sich für eine Ausbildung oder ein Universitätsstudium entscheidet. Ist das Interesse beim Kind vorhanden, und handelt es sich um einen Beruf, der nicht erfordert, mit islamischen Regeln zu brechen, sind muslimische Eltern angeraten, ihr Kind auf diesem Wege zu bestärken. Von der abstrusen Vorstellung, die Berufswahl auf den Ingenieurs-, Anwalts- und Arztberuf zu beschränken, gilt es dagegen Abstand zu nehmen. Viele Berufe, ja sogar die meisten, die wir über den Weg der Ausbildung und des universitären Studiums durchlaufen, sind welche, die gut und nützlich sind. Deshalb verdient das Kind für seine Entscheidung die Unterstützung seiner Eltern.
Bleibt die elterliche Unterstützung aber aus – weil den Eltern die nötige Kompetenz fehlt oder weil sie sich schlichtweg nicht für den beruflichen Werdegang ihres Kindes interessieren – sind Jugendliche angeraten, sich vor ihrer endgültigen Entscheidung von älteren Glaubensgeschwistern beraten zu lassen. Von jenen Geschwistern, die den Bildungsweg in Deutschland durchlaufen haben und heute selbst einen Beruf ausüben. Sie sind manchmal eher in der Lage, einem unsicheren Jugendlichen einen guten Ratschlag mitzugeben als Eltern, die das deutsche Bildungsystem nicht kennen und deren Vorstellungen von Beruf und Arbeit sich aus längst vergangenen Zeiten aus der Heimat speisen.
Auf der anderen Seite stehen ältere Glaubensgeschwister in der Pflicht, den jüngeren bei der Berufswahl ihre Hilfe anzubieten, sie zu motivieren und ihnen Mut zu machen. Die islamische Verantwortung, die wir den Jüngeren gegenüber haben, besteht eben nicht nur darin, sie das Gebet zu lehren und in halal / haram Dingen einzuweisen. Unsere Aufgabe geht weit darüber hinaus. Wer seiner islamischen Verantwortung als Erwachsener gerecht werden will, muss sich mit den alltäglichen Problemen der Jüngeren auseinandersetzen. Er muss ihnen zuhören, ihre Probleme verstehen, ihnen die Angst nehmen, indem er ihnen Lösungen anbietet – sei es in Bezug auf die Berufswahl oder auf andere Lebensbereiche. Die ganze Verantwortung den Eltern aufzubürden und sie anschließend für das Versagen ihres Kindes zur Rechenschaft ziehen, ist so lange falsch, solange ihre leiblichen Kinder unsere Geschwister im Glauben sind.
Arbeit ist kein Selbstzweck
Es ist wichtig, dass Eltern ihren Kindern von klein auf vermitteln, mit welchen Augen der Islam die Arbeit betrachtet. Denn so hoch der Rang der Arbeit im Islam sein mag, so wenig soll der Muslim darin sein Glück suchen. Weder der Beruf noch das erworbene Geld können den Menschen langfristig glücklich machen. Deshalb ist die Ausübung des Berufs sowie das verdiente Geld im Islam auch nur ein Mittel, um des Menschen natürlichen und notwendigen Bedürfnisse zu stillen. Dieser doch so offenkundige Sinn, der sich hinter dem Beruf und dem Geld verbirgt, gerät in einer kapitalistisch orientierten Welt oftmals in Vergessenheit. Schnell wird im Beruf oder im Anhäufen von Vermögen der Sinn des Lebens gesucht. Besonders im vom Kapital versklavten Westen zeigt sich das Drama, im Beruf oder im Ansparen von Geldern seinen Lebenssinn zu sehen.
Muslimische Eltern müssen ihre Kinder vor dieser falschen Denk- und Lebensweise schützen. Sie sollten ihren Kindern deutlich machen, dass der Lebenssinn weder im Beruf noch im Geld gefunden werden kann. Beide führen uns vielmehr ins Verderben, wenn wir beginnen, unsere Hoffnungen in sie hineinzulegen. Ein gläubiger Muslim, für den mit dem Eintritt ins Berufs- oder Studienleben ein neuer Lebensabschnitt beginnt, muss stets darauf achten, Mittel und Ziel nicht zu vertauschen. Niemals darf das Mittel bedeutender sein als das Ziel. Und niemals darf das Mittel selbst zum Ziel werden.
Was aber ist das Ziel eines Muslims? Es ist Gott. Was ist das Mittel? Alles andere. Deshalb gilt: Bei all unserem Vorhaben, bei all unserem Fleiß und Einsatz, bei all unseren Höhen und Tiefen ist es Gott allein, der unsere Herzen zufriedenstellt. Muslimische Eltern müssen hier mit gutem Beispiel vorangehen und in all ihrem Handeln Gott als Endziel betrachten. Wenn sie die Religion Gottes vorleben, werden ihre Kinder zu wohlerzogenen Dienern heranreifen, die sich dem materiellen Sog des Westens entgegenstellen können. Es liegt in der Verantwortung der Eltern, ihre Kinder in die islamische Richtung zu erziehen und islamische Werte vorzuleben.
Fazit
Muslimische Eltern müssen sich von der absurden Vorstellung trennen, nur derjenige könne was werden, der Jura oder Medizin studiert. Jeder Beruf, ja jede Arbeit, die mit den islamischen Normen übereinstimmt und der Gesellschaft nützt, ist eine wertvolle Arbeit. Entsprechend sollte der Muslim seine Berufswahl von seinen Interessen und Stärken abhängig machen und nicht vom Ansehen oder den Respekt, den andere ihm dafür zollen. Nicht immer ist dafür ein Studium erforderlich. Wenn das eigene Kind einen Beruf erlernen möchte, der kein Studium erfordert, haben die muslimischen Eltern ihr Kind dahingehend zu unterstützen – ganz gleich, was Nachbarn oder Freunde dabei denken. Der Missbrauch der eigenen Kinder für die Ziele der niederen Seele ist ein großes Vergehen, das sich keiner aufbürden sollte.
Das alles schließt aber nicht aus, dass muslimische Eltern ihre Kinder motivieren, viel zu lernen, fleißig zu sein, das Ideal anzustreben. Wer die Kinder nach dem Vorbild der Ahlulbayt (a.) erzieht, kommt nicht umhin, sie zum Höchsten streben zu lassen. Hält er sich dann selbst noch an das Ideal, ist die gute Erziehung garantiert.