Stellt euch mal die folgende Situation vor: Ihr schlummert behaglich im Ehebett, neben euch liegt euer Ehepartner. Die Kinder schlafen in ihren Zimmern. Es sind die frühen Morgenstunden. Ihr habt euer Morgengebet verrichtet und seid wieder eingeschlafen. Plötzlich klingelt und klopft es an der Tür. Es ist nicht das Klingeln und Klopfen, das ihr gewohnt seid. Jemand will euch aus dem Schlaf reißen und das gesamte Haus wecken. Sofort. Dann hört ihr zwischen dem Klingeln eine Stimme von draußen rufen: „Polizei. Machen Sie umgehend die Tür auf.“ Ihr versteht die Welt nicht mehr, ihr habt doch nichts verbrochen. Ihr öffnet die Tür und ein Haufen Polizisten, teilweise vermummt, dringen in euer Haus ein. In euer Wohnzimmer, in euer Schlafzimmer, in die Kinderzimmer, wo die Kleinen vor ein paar Minuten noch schliefen und jetzt verängstigt in ihren Betten sitzen. So erging es am Mittwochmorgen einigen muslimischen Brüdern und Schwestern, deren Häuser zu Unrecht durchsucht wurden und in deren Privatsphäre eingedrungen wurde. Ihr Verbrechen: Güte und Menschlichkeit.

Ramadan: Monat der Vereinsverbote

Wie es scheint, hat Innenminister Seehofer einen besonderen Spaß daran gefunden, islamische Vereine und Hilfsorganisationen im heiligen Monat Ramadan zu verbieten. Ob das nur Zufall ist oder ein anderer „geistreicher“ Gedanke dahinter steckt, vermag ich nicht zu beurteilen. Vielleicht will er die Muslime in dem Monat demoralisieren, in dem sie Gäste Allahs sind. Im vergangenen Monat Ramadan wurden in vier deutschen Städten Moscheeräume und private Objekte durchsucht. Dabei ist die Polizei in Berlin besonders respektlos mit den heiligen Quranen und Gebetsräumen umgegangen. Mit Schuhen und Hunden sind sie in die Räume eingedrungen, haben die Qurane aus den Regalen gerissen und sie auf dem Boden verteilt. Seehofer hatte kurz vorher ein Betätigungsverbot der libanesischen Hisbullah nach Vereinsrecht ausgesprochen und vier Tage später die Vereine in Berlin, Dortmund, Münster und Bremen durchsuchen lassen. Insgesamt wurden 16 Objekte durchsucht. Der Vorwurf war der übliche: Unterstützung der Hisbullah durch Geld und Propaganda. Wie üblich war an den Vorwürfen nichts dran. Seehofer stand im Nachhinein in der Kritik, weil er im Vorfeld der Hausdurchsuchungen Interna an ausgewählte Medienvertreter verraten hat, damit sein Spektakel möglichst medienwirksam inszeniert wird.

Am 5. Mai 2021 hatte Innenminister Seehofer für Ansaar International ein Vereinsverbot ausgesprochen, was Hausdurchsuchungen bei den Funktionären des Vereins und befreundeter Vereine zur Folge hatte. Laut dem Innenministerium habe der Verein mit den Spendengeldern neben den Palästinensern auch die Al-Nusra Front unterstützt. Der Verein habe zwar auch Hilfsprojekte unterstützt, diese seien aber indirekt auch den „Terroristen“ zugute gekommen. Doch seien wir mal ehrlich, Seehofer ist es völlig egal, ob das Geld bei Terroristen in Syrien oder Somalia ankommt. Wenn die Vorwürfe denn stimmen sollten. Schließlich ist Seehofer ein befürworter von Waffenlieferungen an Saudi-Arabien und die sind offenkundig der finanzielle und militärische Unterstützer der Terroristen in Syrien. Hauptsache die Unterstützung kommt nicht in Palästina an. Was das Innenministerium eigentlich sagen möchte, ist Folgendes: „Jeder Brunnen, der in Gaza gebaut wird und den Menschen ein würdiges Leben ermöglicht, bedroht Israel und ist daher ein terroristischer Akt.“ Es liegt nahe, dass Ansaar International aus diesem Grund verboten wurde.

Doch damit nicht genug. Das Feuer, das Seehofer für sein Jenseits schürt, scheint ihm noch nicht genügend zu lodern. Er möchte zu denen gehören, über die der Heilige Quran sagt: „Ihr behandelt die Waise nicht großzügig und ihr haltet nicht zur Speisung des Bedürftigen an. [...] Und ihr hegt für den Besitz eine allzu große Liebe. [...] Und die Hölle an jenem Tag herbeigebracht wird, an jenem Tag wird der Mensch es bedenken. Niemand kann an jenem Tag peinigen, so wie Er peinigt und niemand kann fesseln, so wie Er fesselt.“ [Heiliger Quran, Sura 89] Am Mittwochmorgen durchsuchten Polizisten die Vereinsräume und privaten Objekte von Mitgliedern drei weiterer gemeinnütziger Hilfsorganisationen. Die Hausdurchsuchungen erfolgten eine Woche nach dem Ramadan-Fest (Eid-ul-Fitr). Seehofer blieb seiner Ideologie aber treu, das Vereinsverbot sprach er Mitte April aus – also im heiligen Monat Ramadan.

Ramadan: Monat der Einheit

Wir Muslime müssen lernen, wie ein einziger Körper zu denken und zu fühlen. Jedes Unrecht, das einem Muslim widerfährt, muss uns schmerzen, egal welcher Rechtsschule er angehört. Wenn dieser Körper Rückenbeschwerden hat, ist der gesamte Körper in seinen Bewegungen eingeschränkt. Wenn diesem Körper die Mandeln entfernt werden, hat das Auswirkungen auf das Immunsystem. So müssen wir die Einheit unter uns Muslimen verstehen. Wenn man zum Beispiel aufgrund von Nackenschmerzen einen Physiotherapeuten aufsucht, wird man sich im Laufe der Behandlung wundern, dass dieser den Großteil der Zeit damit verbringt, die Verspannungen in den Schultern und im Rücken zu lösen, und nicht im Nacken. Trotzdem sind im Anschluss die Schmerzen gelindert. Wenn wir denken, dass ein Unrecht, das einem anderen Muslim widerfahren ist, uns nicht unmittelbar betrifft, weil dieser nicht unserer eigenen Ideologie entspricht, verkennen wir die Auswirkungen, die dieses Unrecht mittelbar auf uns haben wird. So wie der verspannte Rücken den Nacken schmerzt.

Es darf in Zukunft nicht mehr sein, dass sich Muslime der schiitischen Rechtsschule nur dann beschweren, wenn es einen schiitischen Verein trifft. Genauso verhält es sich mit den Vereinen der sunnitischen Muslime. Das Schicksal der Vereine, die jetzt und in Zukunft verboten werden, war mit dem Verbot des ersten Vereins besiegelt, den die Muslime stillschweigend hingenommen haben.

Im heiligen Monat Ramadan haben mehrere Millionen Muslime gemeinsam den Tag über gefastet, sie haben gemeinsam gehungert und Durst verspürt. Wir sollten die Energie und die Gottesnähe, die wir aus diesem Monat erlangt haben, dazu nutzen, unsere Einheit zu stärken.

Monat Ramadan: „Ich war Siegreich, beim Herren der Kaaba.“

An dieser Stelle spreche ich denjenigen Brüdern und Schwestern, in deren Häuser und Privatsphäre eingedrungen wurde, meine herzlichen Glückwünsche aus. Ohne es zu wissen, hat Seehofer euch ein verspätetes Eid-Geschenk zukommen lassen. Ihr könnt euch nun zu den großen Gelehrten und heiligen Persönlichkeiten der islamischen Geschichte reihen, die für ihren Einsatz ebenfalls Hausdurchsuchungen über sich ergehen lassen mussten. Nicht zuletzt die ehrenvolle und heilige Fatima (a.).

Der Innenminister hat nicht verstanden, was jeder Muslim in seinen Ritualgebeten von Allah erbittet. Mindestens zehn Mal am Tag lesen wir in unseren Gebeten die Sura Fatiha und bitten Allah, uns auf den zielgerichteten Weg zu führen. Dieser Weg ist kein flacher oder einfacher Weg. Er ist steinig, er hat Schluchten und Täler. Seehofer kann noch so viele Ränke schmieden, letztendlich dient er Allah, ob er will oder nicht. Imam Ali (a.) ist ein fester Bestandteil des heiligen Monat Ramadan. Er (a.) ist bekannt für seinen fürsorglichen und liebevollen Umgang mit Waisenkindern. Durch das Fasten in diesem Monat, durch die Gebete in den heiligen Nächten der Bestimmung (Lailat-ul-Qadr), in denen wir auch seine Verletzung und sein Martyrium betrauern, wird der Imam (a.), seine Ideale und sein Umgang mit den Waisenkindern, zu einem festen Bestandteil in unserem Leben. Seehofer denkt, dass durch die Verbote und Hausdurchsuchungen die Unterstützung für die Bedürftigen gekappt würde und die Beteiligten verängstigt ihren zielgerichteten Weg verlassen würden. Allah braucht uns jedoch nicht, um die Waisen und Bedürftigen zu versorgen. Jeder Mensch bekommt die ihm festgeschriebene Versorgung. Wir dürfen lediglich an diesem Wunder teilhaben. Diejenigen, die verängstigt werden sollten, sind jetzt überzeugter als vorher. Das Unrecht, das man ihnen antat, erhöht ihre Stellung bei Allah und bei ihren Geschwistern.

Auf Twitter kommentierte Seehofer die ungerechtfertigten Hausdurchsuchungen: „Wer den Terror unterstützt, wird in Deutschland nicht sicher sein. Egal in welchem Gewand seine Unterstützer in Erscheinung treten, sie werden in unserem Land keinen Rückzugsort finden.“ Der Innenminister droht den Muslimen also mit Verfolgung und Drangsal, sollten sie ihre Menschlichkeit und Opferbereitschaft beibehalten und sich mit rechtsstaatlichen Mitteln für die gerechte Sache einsetzen. Herr Seehofer, wissen Sie nicht, dass wir der Religion Imam Husseins (a.) „Niemals Unterdrückung“ und der Religion Zainabs (a.) „Nichts außer Schönheit“ angehören? Womit drohen Sie uns also? Egal, womit Sie drohen, egal, wie tief die Schluchten sind, die Sie graben, es nützt Ihnen nichts, denn am Mittwochmorgen haben Ihnen muslimische Familien gezeigt, was Standhaftigkeit auf dem Wege Allahs bedeutet.

„Und wer sich abwendet (von allem und zuwendet) Allah und Seinen Gesandten und denjenigen, die überzeugt sind, dann wahrlich Allahs Bündnis, das sind die Siegenden.“ [Heiliger Quran, 5:56]