Es ist ein kalter Wintermorgen im Jahr 2030 in Delmenhorst. Mustafa und Haidar warten an der Straßenecke im Transporter. Abbas sitzt hinten im Laderaum. In wenigen Minuten ist es 3:01 Uhr und die Aktion geht los. Andere Gruppen befinden sich bei anderen Zielen. Haidar ist sich sicher, dass auch sie die Uhr im Blick haben. Noch eine Minute. Ihm gehen viele Gedanken durch den Kopf. Er muss an letzte Woche denken, als die Polizei erneut in den frühen Morgenstunden in das Haus gedrungen ist und es durchsucht hat. Im Gegensatz zum letzten Mal mussten sie diesmal klingeln. Der Gedanke brachte ihn zum Schmunzeln. Sein Vater hatte nach der letzten Hausdurchsuchung die Tür so massiv verstärkt, dass es ihnen nicht möglich war, sie gewaltsam zu öffnen. Noch 30 Sekunden. Dann kam ihm das Bild seiner verängstigten Geschwister in den Sinn und er wurde wieder ernst. Seine Mutter hatte sie in den Arm genommen und ihnen gesagt, sie sollen keine Angst haben, Gott ist mit den Standhaften. Noch 3 Sekunden. Auch diesmal war der Vorwurf lächerlich und offensichtlich erlogen. Ein Nachbar soll gesehen haben, wie er verdächtige Objekte ins Haus getragen hätte. Natürlich haben sie nichts gefunden und sind kommentarlos abgezogen. 3:01 Uhr, es geht los!
Rückblick 2020 – Das Feindbild: Politisch aktive Muslime
Wenn man sich die Entwicklung der Meinungsfreiheit im Westen in den letzten Jahren ansieht, verspürt man ein beklemmendes Gefühl: Entweder ist deine Meinung Mainstream oder sie ist Hassrede. Und Hass muss natürlich beseitigt werden. So ist zumindest die aktuelle Herangehensweise. Besonders im vergangenen und auch diesem Jahr durfte es zu vielen Themen nur eine Meinung geben. Die Medien, seien es die etablierten oder die sozialen, haben aktiv dazu beigetragen: Nicht nur zu Corona darf es nur eine Meinung geben, auch Kritik an der Ermordung von General Qassem Soleimani, der Ermordung von Professor Mohsen Fachrizadeh oder das Rechtsurteil Imam Chameneis zum Verbot des Imports westlicher Impfstoffe wurden durch Twitter, Facebook und Co. massenweise gelöscht.
Wenn man die aktuelle Entwicklung in die Zukunft extrapoliert, müssen sich politisch aktive Muslime auf massive Drangsal gefasst machen. Schon heute werden Muslime rechtswidrig angegangen, wenn sie sich – im Rahmen des gesetzlich erlaubten – gegen die Unterdrückung des palästinensischen Volkes durch das zionistische Regime im besetzen Palästina oder der Zerstörung der Familie durch den Genderwahn äußern. Ich weiß von vielen Muslimen (mich eingeschlossen), dass sie durch ihren Arbeitgeber dazu genötigt wurden, auf das Recht der freien Meinungsäußerung zu verzichten und bereits Veröffentlichtes im Internet zu löschen. Die Alternative: Kündigung! Einige dieser Muslime wollen sich dieses Recht jedoch nicht nehmen lassen und sind weiterhin mit Pseudonymen aktiv.
Im Jahr 2020 haben die Politiker in Sachen Muslime einen Begriff besonders geprägt: der politische Islam. Die Präsidenten Macron und Kurz haben politisch aktiven Muslimen den Krieg erklärt. Dazu zählen nicht nur die politisch aktiven Muslime. In den Augen europäischer unterdrückerischer Politiker gehören auch junge Mädchen mit Kopftuch zum Feindbild politischer Islam. Ob Kopftuchverbot in Österreich, aggressive Razzien in Moscheen und Privathäusern in Deutschland oder Inhaftierung von Gelehrtenstudenten in Großbritannien, ein Großteil der Muslime ist das neue Feindbild.
Trotz dieser Feindseligkeit und die sich daraus ergebende Drangsal dürfen wir Muslime jedoch keinen Millimeter zurückweichen. Im Gegenteil, zum Schutz unserer jungen Schwestern und zum Schutz der Gesellschaft, in der wir leben, müssen wir das Offenkundige aussprechen. Aus dem Hintergrund, aus dem Untergrund. Der heilige Quran wendet sich mahnend an die Unterdrücker: „Es hat euch nicht genützt, dass ihr (Vermögen und Freunde) gesammelt und euch hochmütig verhalten habt. [...] Die Gefährten des Feuers rufen den Gefährten des Paradieses zu: ‚Schüttet auf uns etwas Wasser aus oder etwas von dem, was Gott euch beschert hat‘“ [Heiliger Quran, 7:50]. Und auch wir wenden uns mahnend an die Unterdrücker: Euer Tag wird kommen!
Als Muslime müssen wir uns daher auf ein Szenario vorbereiten, bei dem wir genötigt sein werden, unsere politische Aktivität aus dem Verborgenen heraus weiterzuführen. Soviel zur aktuellen Situation. Zurück in die Zukunft.
2030 – Das Feindbild: Muslime
Eigentlich müssten die Muslime mit der aktuellen politischen Lage zufrieden sein. Die USA haben sich geschlagen und gedemütigt aus dem Mittleren Osten zurückgezogen. Innenpolitisch und wirtschaftlich sind die USA am Ende. Der Jemen hat über die Aggressoren, angeführt von Saudi-Arabien, gesiegt und hat seine Territorien erweitert. Das Elend, welches sie in den damaligen Jahren durchmachen mussten, hat sie als Nation gestärkt. Die Islamische Republik Iran hat die von Imam Chamenei immer wieder angesprochene Widerstandswirtschaft etabliert und hat sich damit zu einer wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Größe gewandelt. Und letztlich der nahende Untergang der zionistischen Apartheid. Die Befreiung der Palästinenser ist in greifbarer Nähe. Für die deutschen Politiker ist es nicht mehr so einfach, die Verbrechen Israels an den Palästinensern zu rechtfertigen. Besonders der letzte Punkt führt dazu, dass Muslime im Westen unter allen Umständen Täter und nicht Opfer sein müssen.
Aus dem Feindbild der politisch aktiven Muslime, gerne auch legalistische Muslime genannt, wurde in den letzten Jahren das Feindbild Muslim. Der Rechtsruck in der politischen Landschaft hat die Spaltung in der Gesellschaft weiter vorangetrieben.
Die sozialen Medien helfen bei der einseitigen Meinungsbildung. Berichte, Lebensgeschichten, Artikel oder Videos, die Alternativen aufzeigen oder dem gewollten politischen Klima widersprechen, egal ob von einem Wissenschaftler oder einer alleinerziehenden Mutter, werden systematisch gelöscht. Der Algorithmus, der sich hinter der Zensur versteckt, ist in den letzten Jahren extrem effektiv geworden. Die vermeintlichen Faktenchecker in den sozialen Medien sind Angestellte der upday GmbH & Co. KG, einem Ableger der Axel Springer SE. Sie tragen ihren Teil zur einseitigen Meinungsbildung bei.
Die Versuche einiger Politiker in der Vergangenheit, den sozialen Medien das Monopol zu entziehen, scheiterten an Korruption und starker Lobbyarbeit. Die Zensur wird mit dem Verstoß gegen die Unternehmensrichtlinien begründet. Was sich genau hinter diesen ominösen Richtlinien verbirgt, weiß keiner und die Löschung erfolgt scheinbar willkürlich. Videos, die Übergriffe auf muslimische Frauen zeigen, werden wegen Gewaltverherrlichung gelöscht. Vergleichbare Videos die Übergriffe auf Nichtmuslime oder auf homosexuelle Muslime zeigen, dürfen online bleiben. Die Reden von islamischen Größen, allen voran Imam Chamenei, werden grundsätzlich gelöscht. In den letzten Jahren hat Imam Chamenei immer wieder vom Untergang der westlichen Unterdrückung und der Oberhand der revolutionären Länder und der Islamischen Republik Iran über den Westen gesprochen. Er schenkt den Muslimen weltweit Hoffnung und stärkt ihre Entschlossenheit. Alleine aus diesem Grund ist er den westlichen Politikern unliebsamer denn je. Alle Versuche, die politisch aktiven Muslime zu verunsichern, scheitern jedoch an der Zuversicht, die sie durch seine Worte gewinnen.
Letztendlich hat die massive Zensur dazu geführt, dass die sozialen Medien fast ausschließlich von denjenigen konsumiert werden, die ohnehin nicht aus ihrer Blase herauskommen wollen. Digitale Nachrichtendienste sind heutzutage die Alternative. Auf dem Feld hat sich viel getan. Die politisch aktiven Muslime nutzen diese Dienste zur Verbreitung von Informationen und zur Organisation ihrer Aktivitäten in kleinen Gruppen von bis zu zehn Personen. Es gibt hunderte solcher Kleingruppen. Deutschlandweit.
Parallel zum politischen Wandel nahmen auch die Verstöße des Verfassungsschutzes immer weiter zu. Die subtilen Drohungen und Erpressungen von Einzelpersonen und Vereinen, die Zusammenarbeit mit anderen, deutschlandweit bekannten Persönlichkeiten und Gemeinden zu unterlassen, waren ein trauriger Anfang. Später sind auch die Kinder und Angehörigen politisch aktiver Muslime ins Visier des Verfassungsschutzes geraten. Auf deren Druck hin wurden den sportlich oder sozial engagierten Angehörigen Ämter entzogen. Heutzutage kennt der Verfassungsschutz kein Halt mehr. Jeder im Umfeld politisch aktiver Muslime ist ein potenzielles Opfer dieser verfassungswidrigen Schattenorganisation. Seien es Besuche beim Arbeitgeber oder Ausbildungsstätten, sie nutzen jedes Mittel, um die Muslime einzuschüchtern. Einigen Muslimen, die nicht klein beigeben wollten, wurden anonym Fotos auf das Mobiltelefon geschickt, die ihre Kinder auf dem Schulweg zeigten.
Verständlicherweise hat dieses Vorgehen viele Muslime abgeschreckt und sie haben ihre politischen Aktivitäten eingestellt oder haben den Kontakt zu wichtigen Persönlichkeiten oder Gemeinden abgebrochen. Aber längst nicht so viele, wie der Verfassungsschutz es gerne gehabt hätte. Diejenigen, die sich nicht einschüchtern ließen, wuchsen als Gemeinschaft enger zusammen. Die Feinde hatten es geschafft, die Anzahl der politisch aktiven Muslime zu verringern, aber die Entschlossenheit der Verbliebenen wuchs weiter und damit auch ihre Effektivität.
Das alles hat dazu geführt, dass sich Muslime und auch einige Christen auf lokaler Ebene in kleinen Gruppen organisiert haben. Das Ziel dieser Gruppen ist es, die Mitmenschen zu erreichen und sie für die an der Gesellschaft verübte Ungerechtigkeit zu sensibilisieren. Neben den politischen Aktivitäten werden in diesen Gruppen auch strategische Papiere erarbeitet und verbreitet. Zum Beispiel, wie Muslime sich durch präventive Maßnahmen vor falschen Anschuldigungen schützen können oder wie sie sich auf eine Hausdurchsuchung mental und technisch vorbereiten können. Natürlich werden heute auch weiterhin Artikel geschrieben und Videos gedreht, sehr effektiv und professionell, doch deren Veröffentlichung und Verbreitung ist schwieriger geworden. Nicht nur für Muslime, auch andere Organisationen, die sich einer gerechten Sache untergeordnet haben, müssen mit ihren Aktivitäten und Veröffentlichungen vorsichtig sein. Die Opferbereitschaft hat auch zu unrechtmäßig durchgeführten Inhaftierungen geführt.
Die Zukunft ist ungewiss. Ob es in Deutschland zu einem politischen Klima kommt, dass politisch aktive Muslime immer weiter unterdrückt, oder das Gegenteil der Fall ist, kann niemand mit Gewissheit sagen. Als Muslime müssen wir stets vorbereitet sein, egal welches Klima uns erwartet.
3:01 Uhr, es geht los!
Für die nächste Aktion haben sich die Gruppen auf ein besonderes Datum und eine besondere Uhrzeit geeinigt. Deutschlandweit, am selben Tag, zur selben Zeit, wollen sie Denkmäler setzen.
Haidar lässt den Transporter so weit rollen, bis er die perfekte Position erreicht hat. Sie steigen aus und öffnen die Türen zur Ladefläche, Ahmad kommt ihnen entgegen. Er hat das Zeug bereits angemischt. Jetzt dürfen sie keine Zeit mehr verlieren. Schnell laden sie die Teile ab, die sie vor einigen Monaten im Baumarkt besorgt hatten, und stapeln sie vor die Tür des Rathauses. Sie haben diese Aktion so oft schon eingeübt, dass sie innerhalb von 30 Minuten alles abgeladen, in Position gebracht und miteinander verbunden haben. Die drei steigen in den Transporter ein und fahren nach Hause.
Am nächsten Morgen haben die Medien einiges zu berichten. In Delmenhorst wurde die Eingangstür zum Rathaus zugemauert. Auf die Mauer wurde in großen Buchstaben geschrieben: „Reißt die Mauer der Apartheid runter! Freiheit für Palästina!“ In Dessau wurde an die Fassade des Polizeireviers Dessau-Roßlau in der Wolfgangstraße ein großes Porträt von Oury Jalloh gemalt. Darunter stand: „Oury Jalloh wurde hier ermordet und verbrannt!“ Die Polizisten im Gebäude haben nichts davon mitbekommen. In Erfurt wurden vor dem Amt für Verfassungsschutz neun selbstgebaute Särge abgelegt und fest im Boden verankert. Ein Sarg für jedes Opfer der NSU Morde. Auch in Berlin, Bremen, Münster, Hannover, Köln und vielen anderen Städten hatten die Medien einiges über die Nacht zu berichten, an der Qassem Soleimani zehn Jahren zuvor, am 3. Januar, ermordet worden war.